Kapitel 4. Erfahrungen mit Indikatoren für Lebensqualität bei der Politikgestaltung

Die Entwicklung besserer Indikatoren für die wirtschaftliche Leistung und den sozialen Fortschritt hat, wie im Anhang dieser Publikation gezeigt wird, maßgeblich zur Schaffung eines gemeinsamen, evidenzbasierten Verständnisses der Grundlagen von Lebensqualität beigetragen.1 Es bedarf umfassenderer und besserer Messgrößen, um die Ergebnisse der Länder und eventuell anstehende Probleme besser zu erfassen. Die Indikatoren selbst sorgen jedoch nicht für Veränderungen bei der Politikausrichtung und -gestaltung. Es besteht stets die Gefahr, dass die neu entwickelten Indikatoren nicht zu einem neuen Ansatz in der Politikgestaltung führen, sondern „lediglich einen weiteren Bericht“ nach sich ziehen. Viele der Indikatoren für Lebensqualität, die in das Indikatoren-Dashboard von Ländern aufgenommen wurden, sind bereits etabliert und schlagen sich in der Ausrichtung der Politik nieder (z. B. in Bezug auf Arbeitslosigkeit). Wie in den vorangegangenen Kapiteln deutlich wurde, sind allerdings bei vielen dieser Indikatoren nach wie vor Verbesserungen nötig, damit Politikfehler der Vergangenheit vermieden werden können. Außerdem sind institutionelle Mechanismen, die die Nutzung solcher Indikatoren bei Regierungsentscheidungen fördern, von entscheidender Bedeutung.

Dieses Kapitel geht der Frage nach, was sich verändert, wenn die Lebensqualität bei der Politikgestaltung in den Fokus rückt.

In Kasten 4.1 wird beschrieben, wie Indikatoren für Lebensqualität in den verschiedenen Phasen des Politikzyklus genutzt werden könnten, sei es, um Handlungsprioritäten aufzuzeigen, das Für und Wider verschiedener Strategien zur Verwirklichung der Politikziele abzuwägen, die zur Umsetzung der jeweiligen Strategien erforderlichen (Haushalts-, Personal- und Politik-)Ressourcen bereitzustellen, die Umsetzung von Maßnahmen in Echtzeit zu überwachen, die Ergebnisse zu prüfen oder Entscheidungen über künftige Politikänderungen zu treffen (Abbildung 4.1). In diesem Abschnitt wird dargelegt, dass ein umfassender Rahmen mit den wichtigsten Dimensionen der Lebensqualität, der nicht nur den Durchschnittsergebnissen, sondern auch den Auswirkungen von Politikmaßnahmen auf die einzelnen Teile der Gesellschaft Rechnung trägt, und der die Lebensqualität in der Gegenwart, der Zukunft und in anderen Teilen der Welt gleichermaßen berücksichtigt, bessere Ergebnisse verspricht und die Kluft zwischen Politikverantwortlichen und Bevölkerung überwinden kann.

Die Nutzung von Indikatoren für Lebensqualität bei der Politikgestaltung kann in mehrfacher Hinsicht von Vorteil sein. Zu nennen ist hier insbesondere:

  • Indikatoren für Lebensqualität liefern ein umfassenderes Bild der Lebensbedingungen in einem bestimmten Gebiet (Land, Region, Stadt usw.) und lenken das Augenmerk auf Ergebnisse, die für das Leben der Menschen relevant sind, bei Politikanalysen aber nicht systematisch berücksichtigt werden, ganz einfach, weil es keine geeigneten Messgrößen gibt. Dies war gewissermaßen der Ausgangspunkt der Agenda zur Wohlstandsmessung jenseits des BIP. Beim BIP bleiben nämlich, wie wir gesehen haben, wesentliche Aspekte der Lebensbedingungen unberücksichtigt.

  • Sie fördern eine ressortübergreifende strategische Ausrichtung auf bestimmte Ergebnisse. Ressortübergreifende Zusammenarbeit und Kohärenz sind während des gesamten Politikzyklus von entscheidender Bedeutung. Behörden agieren oft in Silos und konzentrieren sich auf die Ressourcen und Ergebnisse in ihrem unmittelbaren Zuständigkeitsbereich (Wohnungsbau, Gesundheit, Bildung, Beschäftigung usw.), ohne die weitreichenderen Auswirkungen ihrer Maßnahmen zu berücksichtigen. In Kriminal- und Justizbehörden z. B. liegt der Fokus auf den direkten Auswirkungen der Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung und zur Gewährleistung der Sicherheit, und dies obwohl von anderen Politikbereichen und gesamtgesellschaftlichen Strukturen (wie Armut, Wohnverhältnissen, unzureichenden Gesundheitsleistungen und Bildungsangeboten) u. U. beträchtliche Ausstrahlungseffekte ausgehen. Ausstrahlungseffekte gibt es auch in umgekehrter Richtung: Die persönliche Sicherheit hat erheblichen Einfluss auf die Ergebnisse in anderen Politikbereichen, wie z. B. Bildungsergebnisse und soziale Kontakte. Solche Ausstrahlungseffekte treten in allen Politikbereichen auf. Rahmenkonzepte zur Messung der Lebensqualität können die ressortübergreifende Kohärenz fördern und die Behörden bei der Diskussion der Auswirkungen sprachlich auf eine Linie bringen, indem sie das Ergebnisspektrum abstecken, dem in allen Politikbereichen Rechnung getragen werden muss. Ein mehrdimensionaler Rahmen für Lebensqualität (d. h. ein Rahmen, der alle für das Leben der Menschen wichtigen Aspekte umfasst) kann darüber hinaus für positive Wechselwirkungen zwischen Behörden sorgen und sie dazu bringen bzw. ihnen dabei helfen, ihre Maßnahmen und Programme abzustimmen, um ein übergeordnetes Ziel zu erreichen. Solche Rahmen können auch dazu beitragen, die Zuständigkeiten zwischen den und innerhalb der einzelnen staatlichen Ebenen und verschiedenen Akteursgruppen zu klären, und die Koordinierung von Politikmaßnahmen verbessern.

  • Sie zeigen durch detailliertere Daten die Diversität der Erfahrungen auf. Im Gegensatz zu vielen aggregierten Messgrößen, deren Fokus auf der gesamtwirtschaftlichen Leistung liegt, bieten Messgrößen, die Ergebnisse auf individueller sowie auf Haushaltsebene erfassen, die Möglichkeit, Ungleichheiten, soziale Brennpunkte und Bevölkerungsgruppen, deren Ergebnisse hinter den landesweiten Entwicklungen zurückbleiben, in den Blick zu nehmen. Das OECD-Konzept „Inklusives Wachstum“ und das Weltbank-Konzept „Wohlstand für alle“ sind Versuche, das Augenmerk in stärkerem Maße auf die Verteilung der positiven Wachstumseffekte zu legen.

  • Sie tragen sowohl der gegenwärtigen Lebensqualität als auch dem künftigen Ressourcenbestand Rechnung. Wie im vorangegangenen Kapitel dargelegt, besteht eine wesentliche Schwäche des BIP darin, dass es den Aspekt der Nachhaltigkeit unberücksichtigt lässt. Dies betrifft sowohl die Frage, ob das Wirtschaftswachstum selbst auf Dauer aufrechterhalten werden kann, als auch die Frage, ob das Wachstum mit ökologischen und sozialen Kosten einhergeht, die die positiven Wachstumseffekte zum (großen) Teil aufheben. In dieser Hinsicht ist der große (d. h. ökonomische, ökologische und soziale) Erfassungsbereich von Indikatoren für Lebensqualität ein entscheidender Vorteil. Die meisten Ansätze zur Messung der Lebensqualität umfassen außerdem zukunftsgerichtete Elemente, wie z. B. Indikatoren zum Natur-, Human-, Sozial- und Wirtschaftskapitalbestand, der die Grundlage für die künftige Lebensqualität bildet (wenngleich im Hinblick auf die Messung dieser Kapitalkategorien, wie wir zuvor gesehen haben, noch beträchtliche Fortschritte nötig sind). Dadurch bilden sie ein Gegengewicht zur kurzfristigen Perspektive der meisten Politikentscheidungen (über das „hier und jetzt“) und bieten Regierungen die Möglichkeit zu überprüfen, ob die Verbesserung der Lebensqualität in der Gegenwart auf Kosten des Ressourcenbestands künftiger Generationen („später“) oder anderer Länder („anderswo“) geht.2

  • Sie fördern eine umfassendere Evaluierung der Auswirkungen von Politikmaßnahmen auf das Leben der Menschen. Wenn Ministerien ermutigt werden, die vielfältigen lebensqualitätsbezogenen Ergebnisse und Auswirkungen ihrer Programme zu betrachten, kann dies den Politikverantwortlichen helfen, die längerfristigen Wirkungen von Programmen zu erkennen. Außerdem werden Zielkonflikte und Ausstrahlungseffekte verdeutlicht und transparenter gemacht. Eine Rechenschaftslegung über die Ergebnisse ist für ein effizientes und effektives Regierungshandeln von grundlegender Bedeutung. Sie ist der Hauptbeweggrund für die Ex-post-Evaluierung von Politikmaßnahmen und liefert wichtige Inputs für die strategische Prioritätensetzung. Rahmen für Lebensqualität können als Grundlage für die Rechenschaftslegung von Behörden dienen. Wenn die durch die Politikmaßnahmen zu erzielenden Ergebnisse mithilfe mehrerer Indikatoren für Lebensqualität definiert werden, kann die Rechenschaftslegung bei der Ex-post-Evaluierung auf ein größeres Ergebnisspektrum ausgeweitet werden. Eine Verständigung über die Dimensionen und Indikatoren der Lebensqualität kann darüber hinaus zu einer Vereinheitlichung der externen Rechenschaftslegung führen. Dies betrifft z. B. die Rechenschaftslegung im Rahmen der parlamentarischen Kontrolle, durch Kontrollbehörden und durch die Zivilgesellschaft. Eine solche Verständigung schafft einen gemeinsamen Diskurs und einen Konsens über den Nutzen, der von den jeweiligen Politikmaßnahmen und -programmen erwartet wird.

  • Sie fördern eine öffentliche Debatte. Regelmäßige Berichterstattung, Monitoring und Evaluierung auf der Basis von Indikatoren für Lebensqualität ermöglichen eine landesweite Diskussion zwischen allen Akteuren (Politikverantwortlichen, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Unternehmen und Bürgern), die auf einem gemeinsamen Verständnis von Lebensqualität beruht.

Eine regelmäßige Berichterstattung über Statistiken zur Lebensqualität kann helfen, Probleme aufzuzeigen, und sie kann bei der Agendasetzung des Politikzyklus als Grundlage für Politikentscheidungen dienen. Schon allein die Bereitstellung von Daten zu Niveaus, Ungleichheiten und Trends im Hinblick auf die Lebensqualität für verschiedene Akteure (wie Zivilgesellschaft, Politikverantwortliche, Unternehmen und Medien) kann zu Meinungsumschwüngen führen, eine Diskussionsgrundlage schaffen und Auswirkungen auf die Prioritätensetzung haben. So hat z. B. die Verfügbarkeit zuverlässiger Daten über die Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern dank der standardisierten Erhebung im Rahmen der OECD-Schulleistungsstudie PISA maßgeblich dazu beigetragen, dass sich der Fokus der Bildungspolitik von Schulbesuchsquoten und Bildungsabschlüssen auf die in der Schule tatsächlich erworbenen Kenntnisse und Kompetenzen verlagerte.

Um die zuvor erörterten potenziellen Vorteile von Indikatoren für Lebensqualität nutzen zu können, muss man jedoch über die bloße Bereitstellung von Indikatoren hinausgehen. Damit Indikatoren für Lebensqualität bei der Politikformulierung und -evaluierung einbezogen werden, müssen jedoch bestimmte Bedingungen erfüllt werden. Die Akteure, die die entsprechenden Studien und Analysen durchführen oder in Auftrag geben, müssen sich bewusst dafür entscheiden und die Politikverantwortlichen müssen eine umfassendere Evidenzgrundlage verlangen. Außerdem bedarf es etablierter Instrumente, Modelle und Techniken zur Evaluierung der monetären und nichtmonetären Kosten und Vorteile aller staatlichen Programme, die von den Analysten in den zuständigen Behörden anerkannt werden (wie etwa die im Green Book: Appraisal and Evaluation in Central Government des britischen Schatzamts erläuterten Methoden [HM Treasury, 2018]).

In mehreren OECD-Ländern wurden formale und/oder strukturelle Mechanismen geschaffen, um sicherzustellen, dass Indikatoren für Lebensqualität bzw. Indikatoren „zur Wohlstandsmessung jenseits des BIP“ in die Politikprozesse integriert werden. Sie können sich auf eine oder mehrere Phasen des in Abbildung 4.1 dargestellten Politikzyklus beziehen. Solche Mechanismen und Verfahren sind ein guter Ansatzpunkt für Analysen, die über das BIP hinausgehen, da damit überprüft werden kann, ob den diversen anderen Wohlstandsdimensionen jenseits der gesamtwirtschaftlichen Produktion ein angemessener Stellenwert bzw. gebührende Aufmerksamkeit zuteilwird. Viele Länder sehen z. B. im Fall von Energieprogrammen eine Kosten-Nutzen-Analyse vor, bei der etwaige Folgen in der Zukunft unberücksichtigt bleiben. In den aktuellen Verfahren vieler Länder fallen Klimafolgen, die in vierzig Jahren auftreten werden, kaum ins Gewicht. Kurzum: Nachhaltigkeit wird durch solche Verfahren nicht gewährleistet.

Tabelle 4.1 bietet einen Überblick über diesbezügliche Erfahrungen in zehn Ländern, die Politikrahmen für Lebensqualität eingeführt haben. Sie informiert darüber, welche Behörde federführend ist und auf welche Phase des Politikzyklus sich der geschaffene Mechanismus bezieht (zu den Rahmenbedingungen der Entwicklung der Politikmechanismen und -rahmen in diesen Ländern vgl. Exton und Shinwell [2018]). Diese Fallstudien lassen allgemeine Aspekte, Unterschiede und Herausforderungen bei der Einführung solcher Politikrahmen erkennen. Die allgemeinen Aspekte betreffen den Rahmen für die Messung an sich, das Verfahren, mit dem ein Konsens über dessen Merkmale erzielt wird, und den politischen Kontext.

Wie bereits festgestellt, wurden die Indikatoren für Lebensqualität in manchen Ländern nicht speziell für einen Einsatz in der Politik entwickelt. In anderen gehen sie dagegen auf einen Paradigmenwechsel in der Politik zurück, bei dem das Konzept Lebensqualität auf eine breitere Grundlage gestellt wurde. Vor diesem Hintergrund wurde z. B. in Ecuador der Begriff Buen Vivir (gutes Leben) in der Verfassung verankert. In Schottland wiederum erhielten die Indikatoren für Lebensqualität durch die Verankerung in einen nationalen Rahmenplan und in Monitoringverfahren eine zentrale Rolle. Zudem wird dem Parlament zu Beginn des Haushaltsverfahrens auf Basis dieser Indikatoren Bericht erstattet. (vgl. Tabelle 4.1). Dies sind nur einige ausgewählte Beispiele. Auch in anderen Ländern, darunter Bhutan, Mexiko, Kolumbien, Slowenien und Costa Rica, wurden Rahmen und Indikatoren für Lebensqualität entwickelt, an denen sich die Politikgestaltung orientiert.

Wie viele und welche Indikatoren in der Politik genutzt werden, ist von Land zu Land sehr unterschiedlich. In Schweden, Italien und Frankreich, wo vor allem bei der Berichterstattung für das Parlament auf solche Indikatoren zurückgegriffen wird, beschränkt man sich auf einige wenige, um die parlamentarische Debatte zu erleichtern (in Frankreich auf 6-10, in Italien auf 12 und in Schweden auf 15). Ganz anders in Neuseeland und im Vereinigten Königreich: Dort stellt das nationale Statistikamt eine Vielzahl von Indikatoren bereit, die bei Kosten-Nutzen-Analysen und Ex-post-Evaluierungen einer Reihe von Politikmaßnahmen (What Works for Well-being Centre im Vereinigten Königreich)33 sowie ex ante bei der Politikgestaltung (Neuseeland) berücksichtigt werden. Zwischen diesen beiden Extremen sind Ecuador und Schottland zu verorten, die eine bestimmte Anzahl von Indikatoren und klar definierte Monitoring-Verfahren vorsehen (Ecuador im nationalen Entwicklungsplan und Schottland im National Performance Framework).

Auf welche hoch aggregierten Outcome-Indikatoren zurückgegriffen wird, variiert ebenfalls von Land zu Land, und zwar abhängig davon, wofür sie im Politikprozess genutzt werden. So war z. B. in Italien bei der Auswahl der Indikatoren für das Haushaltsgesetz u. a. die Eignung für kurzfristige Trendprognosen (drei Jahre) ausschlaggebend. Damit waren Indikatoren des subjektiven Wohlbefindens von vornherein ausgeschlossen, da nur begrenzt Daten dazu erhoben werden, es Bedenken im Hinblick auf deren Qualität gibt und wenig Befunde dazu vorliegen, wie sich Haushaltsentscheidungen auf ihre Entwicklung auswirken. Das What Works for Well-Being Centre im Vereinigten Königreich schenkt Indikatoren des subjektiven Wohlbefindens im Gegensatz dazu ein besonderes Augenmerk. Es stellte fest, dass bei einer Reihe von Politikmaßnahmen Anpassungen erforderlich sind, wenn (anstelle der herkömmlichen Kosten-Nutzen-Analysen) solche Indikatoren zugrunde gelegt werden.

In einigen Ländern sorgten die Politikrahmen für Lebensqualität für eine Einbindung des Parlaments, unabhängig davon, ob diese Rahmen auf Initiative des Parlaments oder der Regierung entwickelt wurden. In Frankreich, Italien und den Niederlanden (und in geringerem Maße auch in Schweden) soll mit der jährlichen Berichterstattung über die Auswirkungen der von der Regierung ergriffenen Maßnahmen auf (ausgewählte) Indikatoren für Lebensqualität sichergestellt werden, dass das Parlament über die nötige Evidenzbasis verfügt, um die Regierung im Hinblick auf ihre Entscheidungen zur Rechenschaft zu ziehen. In anderen Ländern hat ein zentralstaatliches Organ die Federführung übernommen. Beispiele hierfür sind Neuseeland, dessen Schatzamt für den Living Standards Framework verantwortlich ist, und Ecuador, wo das Buen Vivir-Sekretariat und das Planungsministerium (SENPLADES) federführend sind.

Einige der in Tabelle 4.1 beschriebenen Initiativen verdanken sich einer starken Führung, wobei sich in vielen Fällen ein prominenter Politiker für das jeweilige Lebensqualitätskonzept einsetzte. Ein bemerkenswertes Beispiel hierfür ist Ecuador. Dort leitete der frühere Präsident Rafael Correa eine Verfassungsänderung in die Wege, um das Konzept Buen Vivir (gutes Leben) darin zu verankern. Weitere Beispiele sind Frankreich (Annahme eines Gesetzesentwurfs der Abgeordneten Eva Sas), das Vereinigte Königreich (Einführung des Programms Measuring National Well-Being durch den ehemaligen Premierminister David Cameron) und Schottland (seit Regierungsantritt der SNP im Jahr 2007).

Die meisten dieser Initiativen wurden allerdings erst vor Kurzem ins Leben gerufen. Es ist also mit Anpassungen und Modifikationen zu rechnen und noch zu früh, um Bilanz zu ziehen. Eine entscheidende Herausforderung besteht darin, sicherzustellen, dass die jeweiligen Initiativen nach einem Regierungswechsel fortbestehen, vor allem wenn die Regierung von einer anderen Partei oder Koalition gestellt wird. Daher ist es wichtig, die Kontinuität des politischen Engagements für die jeweiligen Konzepte zu sichern. Dazu bedarf es möglicherweise umfassender öffentlicher Konsultationen, um einen Konsens und eine Koalition für das Rahmenkonzept zu schaffen, die die amtierende Regierung überdauern werden, oder aber einer Verankerung des Rahmens in einem mehrjährigen Entwicklungsplan. Wenn die Initiativen primär von einem Politiker getragen werden, ist dies u. U. schwieriger, und es stellt sich die Frage, ob die Maßnahmen zur Umsetzung des Rahmens für Lebensqualität ohne ihren Initiator fortbestehen können. Dies dürfte vor allem davon abhängen, ob ein über das BIP hinausgehender Ansatz in der Öffentlichkeit breite Unterstützung findet und in allen Bereichen der öffentlichen Verwaltung systematisch berücksichtigt wird.

Damit entsprechende evidenzbasierte Maßnahmen entwickelt werden können, sind außerdem kontinuierliche iterative Fortschritte bei der Datensammlung, -weitergabe und -analyse sowie Politikexperimente nötig. Die Nutzung von Indikatoren zur „Wohlstandsmessung jenseits des BIP“ langfristig sicherzustellen, ist also schwierig und erfordert die Beantwortung folgender Fragen: Welche Maßnahmen müssen ergriffen werden, um die systematische Berücksichtigung der Indikatoren in der Politik dauerhaft zu gewährleisten? Welche Instrumente sind am effektivsten, um bei den beteiligten Akteuren ein breiteres Interesse sicherzustellen? Eine weitere Herausforderung besteht darin, Änderungen bei einer oder mehreren Variablen zur Lebensqualität auf bestimmte Politikmaßnahmen zurückzuführen.

Im Zusammenhang mit Politikentscheidungen Kausalitäten nachzuweisen, ist immer schwierig. Wenn man versucht, das Leben der Menschen mit Politikmaßnahmen auf faire und ausgewogene Art und Weise zu verbessern, findet man nur sehr selten optimale Bedingungen zur Ermittlung von Ursache-Wirkungsbeziehungen vor. Durch die Erhebung der richtigen Daten zum richtigen Zeitpunkt und die Nutzung der am besten geeigneten Modelle und Instrumente kann die nötige Evidenzbasis aufgebaut werden. Politikmaßnahmen, die auf bestimmte Ergebnisse abzielen, haben u. U. auch nichtintendierte Auswirkungen auf mehrere andere Ergebnisse bzw. unbeabsichtigte Effekte. Im Fall der Indikatoren für Lebensqualität stellen die Mehrdimensionalität des Konzepts selbst und, wie im vorangegangenen Kapitel erörtert, die Schwierigkeit, Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Indikatoren aufzuzeigen, zusätzliche Herausforderungen für die Politik dar. Bei vielen Indikatoren für Lebensqualität, die erst seit Kurzem in umfassenden und hochwertigen Datenerhebungen nationaler Statistikämter berücksichtigt werden, wird es eine Weile dauern, bis die für die Untersuchung wichtiger Politikfragen erforderlichen Zeitreihen vorliegen, sodass Analysen und Prognosen möglich sind. Um die nötige Evidenzbasis aufzubauen, müssen die Indikatoren für Lebensqualität in Studien zur Evaluierung der Auswirkungen von Politikmaßnahmen routinemäßig berücksichtigt werden.

In Entwicklungsländern gibt es im Hinblick auf die Nutzung eines umfassenden Politikrahmens für Lebensqualität eine weitere Herausforderung. Es besteht die Besorgnis, dass eine solche Agenda vom Wirtschaftswachstum ablenken könnte, das oft als fundamental betrachtet wird. So könnte eine Regierung, der es nicht gelingt, für Wirtschaftswachstum zu sorgen, also das BIP zu steigern, versucht sein, ihr Scheitern damit zu begründen, dass sie eine darüber hinausgehende Agenda verfolgt habe. Auf diesen Einwand sei hier kurz eingegangen: Um die für eine Verbesserung der Lebensqualität erforderlichen Ressourcen bereitzustellen, ist möglicherweise ein BIP-Wachstum nötig, es genügt jedoch nicht. Wenn das Wachstum nicht dem Großteil der Bevölkerung zugutekommt und nicht nachhaltig ist, ist es kein „gutes Wachstum“. Ob es tatsächlich zu einem größeren gesellschaftlichen Wohlergehen führt, kann lediglich mit dem hier beschriebenen umfassenden Rahmen für Lebensqualität ermittelt werden. Ein kurzfristiges Wachstum, das mit steigender Ungleichheit, zunehmender Umweltzerstörung und einem Vertrauensschwund einhergeht, ist, wie bereits dargelegt, nicht nachhaltig.

Die meisten der in Tabelle 4.1 beschriebenen Rahmen für Lebensqualität umfassen neben anderen Arten von Messgrößen auch Indikatoren des subjektiven Wohlbefindens. Mit anderen Worten: Wie Menschen ihr Leben einschätzen und empfinden, wird im Hinblick auf die Erfassung der Lebensqualität als ein wichtiges Element betrachtet, nicht aber als die alleinige Variable, die alle anderen in sich bündelt.

Das subjektive Wohlbefinden weist Aspekte auf, die sich für Politikanalysen anbieten. Es reagiert erwiesenermaßen auf ein breites Spektrum objektiver Gegebenheiten wie Einkommen, Gesundheit, soziale Beziehungen und politische Mitsprache. Eine Analyse der Einflussfaktoren des subjektiven Wohlbefindens (bei der große Stichproben zugrunde gelegt und zahlreiche Aspekte der Lebensumstände abdeckt werden), kann daher zu einer besseren Politikgestaltung und -evaluierung beitragen, indem sie Auswirkungen beleuchtet, die durch Standardindikatoren wie das Einkommen und andere objektivere Messgrößen nicht (oder nur teilweise) erfasst werden.

Indikatoren des subjektiven Wohlbefindens sind auch wichtig, um die nichtmonetären Kosten und Vorteile von Projekten und Politikmaßnahmen zu ermitteln. Das subjektive Wohlbefinden ist für die Politikgestaltung und die Evaluierung der Auswirkungen von Politikmaßnahmen also von entscheidender Bedeutung.

Bei einigen staatlichen Programmen wurden Daten zum subjektiven Wohlbefinden der Teilnehmer erhoben, um zu ermitteln, welchen Effekt die Programme auf die Teilnehmer haben. Diese Untersuchungen zeigten häufig Auswirkungen auf, die sonst unbemerkt geblieben wären (Ludwig et al., 2013). Auch in Kosten-Nutzen-Analysen staatlicher Stellen wird auf Daten zum subjektiven Wohlbefinden zurückgegriffen, um die nichtmonetären Kosten und Vorteile zu evaluieren (Fujiwara und Campbell, 2011). Dies ist z. B. der Ansatz des britischen Schatzamts.

Das subjektive Wohlbefinden kann auch im Hinblick auf Politikmaßnahmen relevant sein, die auf spezifischere Ergebnisse abzielen, auf Gesundheitsergebnisse etwa. Krueger und Stone z. B. liefern in einem Kapitel des Begleitbands Belege dafür, dass das subjektive Wohlbefinden ein wichtiger „Mediator“ ist, durch den die Ergebnisse in anderen Bereichen verbessert werden können. Es ist u. a. ein Prädiktor der Morbidität und der Mortalität. Politikmaßnahmen, die das subjektive Wohlbefinden verbessern, ziehen indirekt eine Vielzahl anderer Ergebnisse nach sich. Das subjektive Wohlbefinden hat sogar Auswirkungen auf Mutterschafts- bzw. Fortpflanzungsentscheidungen und auf das Selbstwertgefühl von Krebspatienten. Forschungsarbeiten, die neue Erkenntnisse über die Einflussfaktoren des subjektiven Wohlbefindens liefern, werden den Politikverantwortlichen zusätzliche Instrumente an die Hand geben, mit denen sich sowohl das subjektive Wohlbefinden als auch die indirekt damit verbundenen Ergebnisse beeinflussen lassen. Auch ohne ein umfassendes Verständnis der Bestimmungsfaktoren des Vertrauens und der vielfältigen und komplizierten Zusammenhänge, die für die Ergebnisse in unseren komplexen Gesellschafts-, Wirtschafts- und Umweltsystemen ausschlaggebend sind, kann man dafür sorgen, dass mit höherer Wahrscheinlichkeit bessere gesellschaftliche Ergebnisse erzielt werden.

Wir haben in unserem Forschungsprogramm von Beginn an argumentiert, dass bessere und andere Daten und Informationen sich zwangsläufig in der politischen Debatte niederschlagen. Seit wir vor mehr als zehn Jahren mit unserer Arbeit begonnen haben, hat sich die Politik grundlegend verändert. Heute werden Informationen über gesellschaftliche Aspekte verlangt, zu denen es damals kaum Forschungsarbeiten und Erkenntnisse gab. Unsere Statistiksysteme müssen den Problemen unserer Gesellschaft Rechnung tragen und künftige Probleme soweit wie möglich antizipieren. Als unser Forschungsprojekt begann, wurde sowohl der Nachhaltigkeit als auch der Ungleichheit zu wenig Beachtung geschenkt. Vielleicht hatten Politiker gehofft, dass niemand merken würde, wie sehr die Ungleichheit steigt, wenn man sie nicht misst. Das ist eine naive und törichte Hoffnung. Mittlerweile wissen wir, dass die unteren 90 % in den letzten Jahrzehnten kaum von den Wachstumserträgen profitiert haben. Das können wir nicht ignorieren. Es ist Teil der politischen Realität, mit der wir uns auseinandersetzen müssen.

Durch die Fortschritte, die seit Veröffentlichung des Kommissionsberichts im Jahr 2009 bei der Messung der Lebensqualität erzielt wurden, hat sich die Frage, mit der wir uns konfrontiert sehen, geändert. Es geht nicht mehr darum, „wie verlässliche Indikatoren für Lebensqualität entwickelt werden können“, sondern darum, „wie die Indikatoren, die entwickelt wurden, im Politikprozess genutzt werden können“. Diese Frage ist nicht nur neu, sondern auch schwieriger zu beantworten. Viele Länder haben jedoch bereits begonnen, sich damit auseinanderzusetzen. Wir hoffen, dass diese Ansätze künftig weiterverfolgt und von anderen Ländern aufgegriffen werden, damit wir herausfinden können, welche am besten geeignet sind.

Anmerkungen

← 1. Bei Abschluss dieses Berichts wurde das Konzept evidenzbasierter Forschung durch die in mehreren Ländern entbrannte Fake-News-Debatte infrage gestellt. Die langjährige (methodologische und anwendungsorientierte) Statistikforschung hat ein solides Fundament geschaffen, mit dem die Qualität empirischer Forschungsarbeiten beurteilt und insbesondere festgestellt werden kann, inwieweit über Korrelationen hinausgehende Kausalitäten nachgewiesen wurden. Forschungsarbeiten sind, insbesondere in den Sozialwissenschaften, immer als vorläufig und durch spätere Studien potenziell widerlegbar anzusehen. Gute wissenschaftliche Arbeiten enthalten im Übrigen immer Angaben zur Zuverlässigkeit der Ergebnisse. So gesehen, gibt es kaum Befunde, die als absolut sicher gelten können, wohl aber einige, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zutreffen. Das derzeitige Misstrauen gegenüber den Eliten ist u. a. darauf zurückzuführen, dass viele Ankündigungen der Politik weit über das hinausgingen, was mit hinreichender Zuverlässigkeit vorhergesagt werden konnte. So z. B., dass die Globalisierung in relativ kurzer Zeit zu einer Besserstellung der meisten, wenn nicht aller Bürgerinnen und Bürger führen würde. Diesbezüglich hatte die ökonomische Theorie bereits ein starkes Gegenargument geliefert. Es wurde jedoch in unzureichendem Maße versucht, die auf begrenzten Daten beruhenden empirischen Studien und diese weiterreichenden theoretischen Ansätze in Einklang zu bringen.

← 2. „Hier und jetzt“ (gegenwärtige Lebensqualität), „später“ (Kapital) und „anderswo“ (grenzüberschreitende Auswirkungen) sind die drei Dimensionen aus dem richtungsweisenden Brundtland-Bericht (Vereinte Nationen, 1987), die den begrifflichen Kategorien der Indikatoren für nachhaltige Entwicklung zugrunde liegen und auf der Konferenz Europäischer Statistiker vorgestellt wurden (UNECE, 2014).

← 3. 3 https://whatworkswellbeing.org/.

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