15. Agile und experimentierfreudige Innovationspolitik

Die deutsche WTI-Politik hat die Arbeit erfolgreicher Innovationsträger immer unterstützt und ist durch sie geprägt worden. Wie das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand (ZIM) des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) veranschaulicht, richtet sich eine ganze Reihe umfassender und finanziell gut ausgestatteter Maßnahmen speziell auch an kleine und mittlere Unternehmen (KMU; vgl. Kapitel 5). Hinzu kommen diverse Konzepte zur Förderung von Start-ups sowie Bemühungen, Schlüsseltechnologien für die Zukunft zu unterstützen, wie Industrie 4.0, KI und verschiedene Wasserstoffverfahren.

Das Tempo des technologischen Wandels sowie die Komplexität und gesellschaftlichen Auswirkungen transformativer Herausforderungen erfordern mehr Agilität, Flexibilität und Raum für Experimente in der Politikgestaltung. Um den Beitrag des WTI-Ökosystems zur Erreichung von Transformationszielen zu steigern, müssen die Politikverantwortlichen Antworten auf die verschiedensten Herausforderungen finden.

  • Erstens findet die rasante Entwicklung vieler erfolgskritischer Lösungen (insbesondere in der ökologischen Transformation) auf technologischem Neuland statt. Damit stellt sich die Frage, inwieweit tradierte Regulierungsrahmen bedeutenden Innovationen noch den nötigen Spielraum und förderliche Bedingungen bieten können. Experimente werden von entscheidender Bedeutung sein; starre Entwicklungspläne hingegen werden sich angesichts der technologischen Neuerungen der Zukunft und ihren vielen Ungewissheiten nur schwer aufstellen lassen. Beim Umgang mit diesen Experimenten und bei der Auswahl der vielversprechendsten Konzepte ergibt sich allerdings auch eine Reihe von Herausforderungen in Bezug auf die Governance (vgl. Kapitel 14).

  • Damit ist eine zweite Schwierigkeit verbunden: Viele potenziell wichtige Lösungen lassen noch die nötige technologische Reife missen, um wirtschaftlich tragfähig zu sein. Und selbst wenn dieses Problem überwunden ist, besteht immer noch die Gefahr, dass Fehlfunktionen des Markts – wie zu niedrige Preise für CO2-Emissionen und andere Umweltexternalitäten – das kommerzielle Potenzial der Innovation mindern. In beiden Fällen müssen die Politikverantwortlichen u. U. mehr unternehmen, um die Markteinführung vielversprechender Technologien voranzutreiben, etwa indem sie die Entwicklung neuer Märkte unterstützen.

  • Schließlich kann die Bundesregierung es für notwendig befinden, ihre WTI-Maßnahmen stärker auf spezifische Missionen oder Ziele auszurichten. Diese Steuerung wird noch mehr Agilität, Flexibilität und Experimentierfreude erfordern. Vor allem bei zeitkritischen Zielen wie der Minderung von Treibhausgasemissionen dürfte weniger dafür sprechen, sich auf die freien Kräfte des Markts zu verlassen.

In diesem Abschnitt werden die Agilität, Flexibilität und Experimentierfreude der deutschen WTI-Politik untersucht. Er enthält zudem eine Reihe von Handlungsempfehlungen, die die Agilität der staatlichen WTI-Politik und damit auch ihre Erfolgsaussichten verbessern können. Die in diesem Abschnitt dargelegten Empfehlungen und Analysen sollten als Ergänzung zum bestehenden WTI-Policy-Mix betrachtet werden, mit dem Deutschland nach wie vor in vielerlei Hinsicht Pionierarbeit leistet, insbesondere was die Förderung des innovativen Potenzials von KMU betrifft. Dass diese Herausforderungen in den kommenden Jahren an Bedeutung verlieren, ist allerdings nicht zu erwarten, und ihre Komplexität wird zunehmen. Eine Kernfrage lautet daher: Inwieweit ist die deutsche WTI-Politik in ihrer aktuellen Form gerüstet für einen neuen Kontext, in dem viele Technologie- und Wissenschaftsbereiche auf eine agilere und flexiblere Politikgestaltung mit mehr Raum für Experimente angewiesen sind, um neue Ideen und Konzepte in der Praxis zu testen?

Die erste Empfehlung in diesem Abschnitt betrifft die Einrichtung eines Labors für Innovationspolitik. Es würde als Inkubator und Beschleuniger der vielversprechendsten WTI-Maßnahmen des deutschen Staats im Umgang mit Transformationsprozessen fungieren. Im weiteren Verlauf dieses Abschnitts werden die Agilität der deutschen Innovationspolitik und ihre Offenheit für Experimente analysiert.

Überblick und detaillierte Empfehlungen:

Der rasante technologische Wandel und die Beschaffenheit der transformativen Herausforderungen, die auf die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft zukommen, erfordern eine agilere Politikgestaltung und mehr Raum für Experimente. In der WTI-Politik bedarf es vorausschauender Strategien, gemeinsam mit Akteur*innen der Zivilgesellschaft konzipierter Maßnahmen sowie digitaler Instrumente, die Innovationskonzepten eine solide Datengrundlage geben. Beispiele hierfür sind semantische Auswertungen und Big-Data-Analysen, um Daten, die für das WTI-System relevant sind, zu erfassen und zu analysieren. Eine agilere WTI-Politik könnte die Wirksamkeit missionsorientierter Maßnahmen steigern, dazu beitragen, die effizientesten Politikansätze zu skalieren, und raschere Kurskorrekturen ermöglichen. Dies sind entscheidende Voraussetzungen einer deutschen Führungsrolle durch Sprunginnovationen und neuen damit verbundenen Geschäftsmodellen. Die Vision „Deutschland 2030 und 2050“ des vorgeschlagenen Forums (siehe Empfehlung 1 [E1]) sieht vor, mit dem globalen Wandel Schritt zu halten, um Transformationsprozesse kontrollieren zu können. Dafür würde das hier empfohlene öffentlich-private Labor bestimmte Kernbereiche der Innovationspolitik agil gestalten.

E2.1 Als institutioneller Arm des Forums (vgl. E1) sollte das Labor agile Politikgestaltung unterstützen, Reflexivität, Experimente und Lernprozesse fördern und beschleunigen sowie die großen Veränderungen voranbringen, die nötig sind, um die Vision „Deutschland 2030 und 2050“ des Forums umzusetzen. Dementsprechend wäre es Aufgabe des Labors, Leistungsträger, die Experimente durchführen, und vielversprechende Innovationen im gesamten WTI-Ökosystem zu fördern. Davon könnten auch öffentliche Einrichtungen profitieren, die mit Regulierungsexperimenten (vgl. Empfehlung 3 [E3]) oder mit der Beschaffung von Innovationen (vgl. Empfehlung 6 [E6]) befasst sind, ebenso wie städtische Initiativen und andere Bottom-up-Ansätze zur Unterstützung von Transformationen. Gefördert würden auch federführend auf Länderebene initiierte Experimente für Kernaufgaben wie die Digitalisierung des öffentlichen Sektors sowie neue Konzepte für die Beschaffung von Innovationen auf allen Verwaltungsebenen, einschließlich der Kommunen. Das Labor hätte auch den Auftrag, die Abstimmung zwischen Fachministerien, öffentlichen Einrichtungen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zu verbessern. Es würde regionaler Kompetenzen nutzen, um die Entwicklung und Skalierung besonders vielversprechender Regulierungs- und Politikansätze zur Bewältigung von Innovationsherausforderungen zu beschleunigen. Eine wichtige Aufgabe des Labors wäre zudem die Suche nach Möglichkeiten, die Reflexivität zu erhöhen, Lehren aus politischen Experimenten zu ziehen und (bei Bedarf) grundlegende Politikveränderungen zu erleichtern.

E2.2 Das Labor würde Umsetzung und Monitoring fördern und die Vision „Deutschland 2030 und 2050“ voranbringen (vgl. E1) Konkret könnte es eine strategische Vorausschau als Grundlage der Vision „Deutschland 2030 und 2050“ durchführen und zugleich Entwicklungen und Abstimmungsprobleme im Auge behalten, die Transformationsprozesse behindern könnten. Dafür würde das Labor die gesamte Innovationskette von der Ideenfindung bis zur Markteinführung berücksichtigen und den Austausch zwischen den verschiedenen Akteur*innen fördern. Das Innovationslabor würde auch Vermittler des Wandels unterstützen, die den Märkten und diversen Beteiligten des WTI-Systems helfen, die Vision zu verwirklichen. Dies würde namentlich in Form von Auszeichnungen, Wettbewerben usw. geschehen. Beispielsweise würde es die Planung und Einrichtung von Reallaboren und andere Ansätze für flexiblere Rechtsrahmen unterstützen (nähere Einzelheiten siehe E3). Auf ähnliche Weise könnte es auch nachfrageseitige Mechanismen zur Ankurbelung der Innovationstätigkeit fördern (zum Beispiel die öffentliche Beschaffung von Innovationen, wie in E6 dargelegt), und innovationsfreundliche Rahmenbedingungen begünstigen. Besonders wichtig wäre die Förderung von Sprunginnovationen durch die Unterstützung der Aktivitäten der Bundesagentur für Sprunginnovationen (SPRIND) und, im weiteren Sinne, risikofreudiger unternehmerischer Initiativen.

E2.3 Autonomie und finanzielle Ausstattung des Labors würden es ihm ermöglichen, Fachkräften mit unterschiedlichen Profilen mit Hilfe von alternativen Arbeitsverträgen anzubieten und flexibel mit Innovationsakteuren zusammenzuarbeiten. Entsendungen oder befristete Einstellungen würden den Austausch mit der Wirtschaft intensivieren, damit die Politikgestaltung auf wissenschaftlichem und technologischem Neuland oder in besonders komplexen Bereichen technische und unternehmerische Erfahrungen sowie praktisches Wissen berücksichtigt. Um zu verhindern, dass das bereits sehr dichte Netz an WTI-Politikakteur*innen noch komplexer wird, wäre das Labor keine permanente Einrichtung. Seine Rolle ist es allein die neue Agenda des Wandels für künftige Transformationen in der WTI-Politik und insbesondere neue Prozesse auf den Weg zu bringen.

In den letzten Jahren ist die Politikgestaltung (nicht zuletzt aufgrund ihres größeren Anwendungsbereichs und ihrer breiter gefächerten Ziele) komplexer geworden, gleichzeitig haben das Tempo des technologischen Fortschritts und der Klimawandel den Zeitdruck erhöht. Das hat dazu geführt, dass Reallabore an Aufmerksamkeit gewonnen haben. Sie sind Testräume für Regulierung und politische Maßnahmen, die es den Politikverantwortlichen ermöglichen, Initiativen in engem Austausch mit Verwendern von Innovationen und beteiligten Akteuren zu konzipieren und Maßnahmen umzusetzen – unter realen Bedingungen, aber in einem thematisch oder räumlich eingegrenzten Umfeld. Konzepte können so über einen gewissen Zeitraum gemeinsam gestaltet, getestet und verbessert werden. Dies kann das Lernen und die Reflexivität in der Politikgestaltung fördern und beschleunigen, sodass die Qualität und Wirksamkeit von Maßnahmen steigen. Insgesamt können Reallabore Veränderungen und Innovationen im öffentlichen Sektor untermauern und beschleunigen, wodurch sich nicht nur dessen Dienstleistungen verbessern, sondern auch seine Fähigkeit, Innovationen generell zu unterstützen.

Reallabore und vergleichbare Konzepte können auf bestimmte Politikbereiche ausgerichtet sein – wie Besteuerung, Finanzdienstleistungen, Gesundheitsversorgung und Mobilitätslösungen (Österreich), organisierte Kriminalität (Schweden), Immigration (Finnland) oder Beschäftigungssysteme (Dänemark) – oder sie fördern eine innovative, experimentelle und inklusive Politikgestaltung im öffentlichen Sektor (EUPAN, 2018[1]). Sie eignen sich nicht nur für die Politikgestaltung, sondern auch für Umsetzungs- und Evaluierungszwecke – d. h., in diesen Laboren können auch die Auswirkungen oder Folgen neuer Bestimmungen oder Politikansätze für Menschen, Organisationen und Systeme getestet werden. Der britischen Regierung zufolge fließt mithilfe der Reallabore menschenzentriertes Design-Thinking in die Politikgestaltung ein: „Reallabore führen in den Abteilungen des öffentlichen Dienstes neue politische Gestaltungsmethoden ein, die es ermöglichen, anhand von Datenanalysen und neuen digitalen Instrumenten auf die Bedürfnisse der Menschen zugeschnittene Dienstleistungen zu konzipieren (GOV.UK, o. J.[2]). Andere Beispiele für Reallabore finden sich z. B. in Dänemark, Österreich, Finnland und Schweden (The GovLab, 2016[3]; Guerra und Luna, 2018[4]; Arge ITA-AIT Parlament, 2021[5]; Regeringen, 2017[6]).

Deutschland ist seit Langem bestrebt, seine öffentliche Verwaltung zu verbessern. Im Rahmen der beiden Fellowship-Programme Work4Germany und Tech4Germany unterstützen verschiedene Expert*innen aus der Privatwirtschaft den öffentlichen Sektor für einen gewissen Zeitraum dabei, innovative Arbeitsmethoden zu etablieren. Kürzlich hat die Bundesregierung außerdem die Umsetzungsstrategie Digitalisierung gestalten und eine Datenstrategie konzipiert und eingeführt (Bundesregierung, 2018[7]), und für die internen Onlinedienste der Bundesverwaltung gibt es heute die Bundescloud. Im Juli 2021 wurde ein neues Registermodernisierungsgesetz verabschiedet, um Behörden den strukturierten und sicheren digitalen Austausch von Bürgerdaten zu erleichtern. Die Bestimmung entspricht der im Onlinezugangsgesetz geregelten Verpflichtung von Bund, Länder und Gemeinden, bis 2022 ein breites Spektrum an Verwaltungsleistungen online anzubieten. Die Bemühungen, dieses Ziel zu erreichen, wurden jüngst intensiviert. Im Mai 2021 waren 315 der 575 im Gesetz aufgeführten Verwaltungsleistungen zumindest z. T. online zugänglich (Europäische Kommission, 2021[8]).

Allerdings steht die öffentliche Verwaltung vor einigen bedeutenden Herausforderungen, die den Politikverantwortlichen die Umsetzung von WTI-Konzepten erschweren. Im Zentrum dieser Herausforderungen steht die Frage der Modernisierung (und insbesondere Digitalisierung) des öffentlichen Sektors, verbunden mit dem Anspruch, mit dem privaten Sektor nicht nur Schritt zu halten, sondern mit gutem Beispiel voranzugehen. Wie kann z. B. von den Behörden und WTI-Politikverantwortlichen erwartet werden, neue und komplexe Informationsquellen bestmöglich für staatliche Maßnahmen zu nutzen, wenn sich die Digitalisierung des öffentlichen Sektors nicht beschleunigt und sowohl Datenintegration als auch Interoperabilität weiter zu wünschen übrig lassen?

Der im Jahr 2006 geschaffene Normenkontrollrat hat immer wieder darauf gedrängt, die öffentliche Verwaltung in Deutschland zu modernisieren und den Staat zukunftsfest zu machen (NKR, 2021[9]; Fahrenholz, 2021[10]). Besonderen Anlass zur Besorgnis geben u. a. die Digitalisierungsrückstände des öffentlichen Sektors (sowohl bei der Anpassung der eigenen Arbeitsweise als auch beim Abbau von Digitalisierungshürden in Wirtschaft und Gesellschaft), übermäßig lange Gesetzgebungsprozesse und Regulierungsverfahren, die an der Praxis vorbeigehen (NKR, 2021[9]), exzessive regulatorische Belastungen und Bürokratie für Bürger*innen und Unternehmen sowie generell ein öffentlicher Sektor, der den aktuellen Bedürfnissen und Realitäten von Gesellschaft und Wirtschaft nicht gerecht wird (NKR, 2020[11]). Seit 2011 misst der Normenkontrollrat den Erfüllungsaufwand, d. h. die Kosten, die durch die Befolgung von Regeln und Vorschriften dem privaten und öffentlichen Sektor sowie den Bürger*innen entstehen. In seinem Jahresbericht 2021 kam die Behörde zu dem Schluss, dass dieser Aufwand zwar für die Bürger*innen leicht gesunken ist, für Wirtschaft und Verwaltung aber deutlich zugelegt hat (NKR, 2021[9]).

Im Oktober 2021 veröffentlichten 23 Expert*innen und Akteur*innen, darunter der Gründungsdirektor von SPRIND, ein Positionspapier, in dem sie darlegen, dass die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung zu einer Frage der Zukunftsfähigkeit und Demokratie des Landes geworden ist. Sie nennen außerdem acht konkrete Handlungsfelder, in denen ihrer Meinung nach dringender Handlungsbedarf besteht (Nanz, Borggräfe und Hassel, 2021[12]). Die öffentliche Verwaltung bedürfe eines grundlegenden Kulturwandels, eines neuen Selbstverständnisses und einer Anpassung ihrer Strukturen und Prozesse, um Deutschland durch die nächsten Jahrzehnte der Transformation führen zu können. Konkret empfehlen die Autor*innen u. a.: echte Organisationsentwicklungskompetenz aufbauen, das Personalmanagement der Verwaltung modernisieren, selbstständig und partizipativ Foresight- und Szenarienprozesse auf den Weg bringen, Verwaltungsprozesse für eine digitale Welt designen, eine horizontale und vertikale Öffnung der Politikkoordination und staatlichen Governance fördern sowie Transparenz und Öffentlichkeitsbeteiligung erhöhen.

In Deutschland werden Forschungs- und Innovationsprogramme von 19 Projektträgern abgewickelt, was für die Agilität, Experimentierfreude und Anpassungsfähigkeit der Innovationspolitik eine maßgebliche Rolle spielt (Förderberatung des Bundes, o. J.[13]). Diese institutionelle Struktur besteht schon lange und hat Organisationen entstehen lassen, die dank ihrer umfassenden Erfahrungen wertvolles Feedback geben und bei der Umsetzung neuer Projekte auf ein umfassendes institutionelles Gedächtnis zurückgreifen können. Vorteile bietet auch das Vergabeverfahren für 5-Jahresverträge, das die Kosten des Projektmanagements als Wettbewerbselement berücksichtigt und die Projektträger veranlasst, ein hochwertiges Forschungs- und Programmmanagement anzustreben. Projektträger sind gewöhnlich in unterschiedlichen Themenbereichen tätig, sodass sie verschiedene Perspektiven und Erfahrungen bündeln.

Gerade was die Agilität, Anpassungsfähigkeit und Experimentierfreude betrifft, birgt diese Struktur aber auch potenzielle Nachteile. Der Vertragscharakter des Verhältnisses zwischen Projektträger und Ministerium verhindert eine enge Verzahnung der Politikgestaltung mit ihrer Umsetzung in Form der Förderprogramme. Diese strikt nach vertraglichen Mustern gestaltete Beziehung und die mangelnde Unabhängigkeit der Projektträger erschweren diesen außerdem die Förderung riskanterer Innovationen, die besonders innovative Projekte voranbringen könnten (Edler und Fagerberg, 2017[14]). Im Gegensatz zu deutschen Projektträgern können Organisationen wie Vinnova in Schweden oder der Research Council of Norway (RCN) breite und fundierte Erfahrungen sammeln, die es ihnen ermöglichen, bei der Programm- und Politikgestaltung in Partnerschaft mit den zuständigen Ministerien eine deutlich aktivere Rolle zu spielen.

Die Struktur in Deutschland könnte sich in den kommenden Jahren ändern: Der Koalitionsvertrag der Regierung, die seit Dezember 2021 im Amt ist, sieht die Gründung einer Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI) vor, um soziale und technologische Innovationen an den Hochschulen für angewandte Wissenschaften und an Universitäten in Zusammenarbeit mit KMU, Start-ups sowie sozialen und öffentlichen Organisationen zu fördern (SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, 2021[15]).

Test- und Experimentierräume haben in der deutschen Innovationspolitik deutlich an Bedeutung gewonnen (BMWi, o. J.[16]): Zahlreiche Initiativen auf Bundes- und Länderebene fördern die Einrichtung von Reallaboren, insbesondere für Bereiche wie Digitalisierung und Energie, aber z. B. auch in der Stadtentwicklung. Dabei geht es vor allem darum, die Agilität von Regulierungsinstanzen bei der Förderung neuer Technologien mit potenziell umwälzenden Auswirkungen zu verbessern.

Wie in Kapitel 6 dargelegt, dürften antizipative und experimentelle Regulierungsansätze, wie sie in Reallaboren zum Einsatz kommen, immer wichtiger werden, um die Entwicklung hoch innovativer und besonders aussichtsreicher Technologien zu fördern.

Das BMWK definiert Reallabore wie folgt:

Reallabore als Testräume für Innovation und Regulierung machen es möglich, unter realen Bedingungen innovative Technologien, Produkte, Dienstleistungen oder Ansätze zu erproben, die mit dem bestehenden Rechts- und Regulierungsrahmen nur bedingt vereinbar sind. Die Ergebnisse solcher zeitlich und oft räumlich begrenzten Experimentierräumen [sic] bieten die Grundlage dafür, den Rechtsrahmen evidenzbasiert weiterzuentwickeln. Experimentierklauseln sind häufig die rechtliche Grundlage. (BMWi, o. J.[16]).

Unterstützt wurde die Einrichtung von Reallaboren u. a. durch den Wettbewerb „Innovationspreis Reallabore“ (BMWi, 2021[17]), bei dem die Gewinner mit einem Qualitätssiegel ausgezeichnet werden. Auch die Länderregierungen fördern Reallabore auf unterschiedliche Weise (vgl. z. B. (MWK, o. J.[18])).

Immer mehr Stimmen aus der deutschen Politik, Wirtschaft und WTI-Gemeinschaft fordern die Bundesregierung auf, bessere Voraussetzungen für disruptive, bahnbrechende und radikal neue Innovationen zu schaffen. In einer Publikation des Jahres 2018 plädieren die Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft und des Fraunhofer-Instituts, der Vorsitzende des Kuratoriums der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften und eine Reihe von Wirtschaftsführern für eine Reform des Innovationssystems, um gezielt Sprunginnovationen zu fördern (Harhoff, Kagermann und Stratmenn, 2018[19]). Die Autoren (und viele Kommentator*innen) vertreten die Auffassung, dass die transformativen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen, denen sich Deutschland und andere Länder gegenübersehen, auch stärker transformative – und in manchen Fällen disruptive – Innovationen erfordern. Angesichts des komplexen Innovationssystems und der Weltmarktführerschaft der wichtigsten Industrien in Deutschland gibt es keine verfügbare und sofort anwendbare Patentlösung für die Förderung dieser Art von Innovationen.

Dieses Defizit veranlasste die Bundesregierung 2019 zur Gründung der Bundesagentur für Sprunginnovationen (SPRIND), wobei sie sich an Einrichtungen wie der US-amerikanischen Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) orientierte. Dies war vielleicht das konkreteste Resultat der Einsicht deutscher Politikverantwortlicher, dass radikal neue und bahnbrechende Innovationsaktivitäten stärker unterstützt werden müssen. Die Hauptaufgaben der SPRIND bestehen darin, Forschungsideen, aus denen radikale oder bahnbrechende Innovationen werden können, zu entdecken und weiterzuentwickeln sowie die Vermarktung und Verbreitung hoch innovativer Konzepte zu beschleunigen. In dieser Hinsicht knüpft die Agentur einerseits an die fest etablierte Tradition des öffentlich geförderten Wissenstransfers zwischen Wissenschaft und Wirtschaft an, andererseits bietet sie aber auch eine neue Perspektive, die den Bedenken vieler WTI-Akteur*innen Rechnung trägt.

Das Budget für SPRIND wird kontinuierlich erhöht; für die anfänglich zehnjährige Laufzeit der Agentur sind insgesamt 1 Mrd. EUR eingeplant. Organisatorisch untersteht die Agentur dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem BMWK. Der Aufsichtsrat setzt sich aus hochrangigen Vertreter*innen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik sowie jeweils einem*einer Vertreter*in der Bundesministerien für Finanzen, für Bildung und Forschung sowie für Wirtschaft und Klimaschutz zusammen. Wie die DARPA schreibt auch die SPRIND zu spezifischen Themen Innovationswettbewerbe (Challenges) aus (z. B. die Challenge „Ein Quantensprung für neue antivirale Mittel“). Damit greift sie einen Ansatz für Innovationsanreize und -initiativen auf, der in den Informationstechnologien bereits fest etabliert ist und während der Coronapandemie auch in anderen Bereichen an Popularität gewonnen hat.

Für eine Erfolgsbilanz der Bundesagentur für Sprunginnovationen ist es zu früh, aber ihre Gründung veranschaulicht, welche Art von Institution diejenigen Innovationsaktivitäten unterstützen kann, die sich Führungskräfte aus Politik und Wirtschaft wünschen. Allerdings hat die Agentur bei der Erfüllung ihrer Mission und ihres Mandats derzeit mit bürokratischen, rechtlichen und institutionellen Hemmnissen zu kämpfen. Auch eine Reihe operativer Hürden drohen, die Wirksamkeit der SPRIND abzuschwächen. Beispielsweise könnten mehrere institutionelle und rechtliche Einschränkungen – z. B. bestimmte beihilferechtliche Regelungen und Regulierungsauflagen – die Agentur daran hindern, ihren Bestimmungszweck zu erfüllen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann sie nur 100%ige Tochtergesellschaften besitzen, die von der Agentur selbst oder den Ministerien Kredite erhalten können und nach maximal fünf Jahren verkauft werden müssen. Gleichzeitig erfordert die Governance-Struktur der Agentur viel Koordination und enge interministerielle Zusammenarbeit, da sich das BMBF und das BMWK die Zuständigkeit für die SPRIND teilen. Schon bei der Gründung der Agentur sorgte die Suche nach einem Konsens unter diesen Ministerien (und dem Bundesministerium für Finanzen) – zusammen mit der damals alles beherrschenden Covid-19-Pandemie – für Verzögerungen. Es besteht die Gefahr, dass stetige Reibungsverluste durch interministerielle Abstimmungsarbeit die operativen und strategischen Möglichkeiten der Agentur ernsthaft einschränken. Diese Faktoren sollten identifiziert und angegangen werden. Zudem beschränkt sich der Einfluss der SPRIND selbst mit idealem Handlungsspielraum und genügend Ressourcen immer auf die von ihr finanzierten Projekte und deren potenzielle Auswirkungen. Deshalb müssen ergänzende Maßnahmen die Effizienz und langfristige Wirkung der Agentur erhöhen und es ihr ermöglichen, ein breites Spektrum an bahnbrechenden und disruptiven Innovationen systematischer und effektiver zu unterstützen. In Anbetracht der beschriebenen Einschränkungen wurden die rechtlichen Freiräume der Agentur auch bereits ausgeweitet und weitere rechtliche Vereinfachungen sind geplant, damit die SPRIND agiler, flexibler und unabhängiger agieren kann (BMBF, 2022[20]).

Die Bundesregierung sollte erstens Initiativen und Programmen mehr Gewicht verleihen, die besonders risikoreiche und bahnbrechende Forschungsvorhaben finanzieren. Dies sollte aber nicht zu Lasten des soliden Forschungssystems in Deutschland gehen, sondern es lediglich ergänzen. Zweitens könnte die Forschungsfinanzierung in ihrer gegenwärtigen Form durch Initiativen ergänzt werden, die sich einer bestimmten gesellschaftlichen Herausforderung annehmen, indem sie die Grundlagenforschung verschiedener akademischer Fachgebiete interdisziplinär verknüpfen. Die Convergence Research-Initiative der National Science Foundation in den Vereinigten Staaten könnte sich dabei als Vorbild eignen. (NSF, o. J.[21]). Drittens sollte sich die Regierung darum bemühen, Sprunginnovationen systematischer und nicht nur über die SPRIND zu finanzieren. Hierfür müssen sich Denkmuster, Regeln und die Evaluierungskriterien für laufende Innovationsinitiativen und andere Förderprogramme ändern. Möglicherweise müssen auch neue Programme konzipiert werden, die stärker auf Sprunginnovationen zugeschnitten sind. Viertens sollte die Regierung nach Wegen suchen, um einen systematischeren Ausbau erfolgreicher disruptiver Lösungen zu unterstützen. Neben der gezielten Förderung dieser Vorhaben (beispielsweise durch ein zweckgebundenes Programm) dürften hierfür auch eine stärker antizipativ ausgerichtete Regulierung und innovationsfreundliche Normensetzungsverfahren nötig sein. Außerdem bedarf es eines Mechanismus, mit dem die erforderlichen Ressourcen ermittelt und für die Skalierung erfolgreicher Lösungen im öffentlichen Sektor eingesetzt werden können. Fünftens sollte die Bundesregierung ihre bisherigen Bemühungen um eine Förderung von Sprunginnovationen über öffentliche Aufträge (in Bereichen, wie Digitalisierung, Umwelttechnologien und diverse Nachhaltigkeitslösungen) auf den Prüfstand stellen und erheblich verstärken.

Insgesamt ist es wichtig, dass die Politikverantwortlichen, die relevanten Akteure und die Gesellschaft als Ganzes die folgende Überzeugung teilen, vertreten und verinnerlichen: Um Pfadabhängigkeiten zu durchbrechen und wünschenswerte Transformationen voranzubringen, müssen bahnbrechende Neuerungen und Sprunginnovationen gefördert werden – und dies wiederum setzt voraus, dass sich Denkweisen, Mandate und Steuerprozesse grundlegend wandeln.

Literaturverzeichnis

[5] Arge ITA-AIT Parlament (2021), „Reallabore/Sandboxes als regulatorische Experimentierraume“, Foresight und Technikfolgenabschätzung: Monitoring von Zukunftsthemen für das Österreichische Parlament, Parlament, Institut für Technikfolgen-Abschätzung, Wien und Austrian Institute of Technology, Wien, https://www.parlament.gv.at/ZUSD/FTA/081_reg_experiment.pdf.

[20] BMBF (2022), „Stark-Watzinger: Wir wollen die SPRIND auf die nächste Stufe heben“, Pressemitteilung, 14. März, BMBF, Berlin, https://www.bmbf.de/bmbf/shareddocs/pressemitteilungen/de/2022/03/140322-SPRIND.htm.

[17] BMWi (2021), „Innovationspreis Reallabore 2022“, 10. November, BMWi, Berlin, https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Wettbewerb/innovationspreis-reallabore.html.

[16] BMWi (o. J.), „Reallabore – Testräume für Innovation und Regulierung und Regulierung“, BMWi, Berlin, https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Dossier/reallabore-testraeume-fuer-innovation-und-regulierung.html.

[7] Bundesregierung (2018), Shaping Digitalization – Implementation strategy of the Federal Government, https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/publikationen/shaping-digitalization-implementation-strategy-of-the-federal-government-1605330.

[14] Edler, J. und J. Fagerberg (2017), „Innovation policy: what, why, and how“, Oxford Review of Economic Policy, Vol. 33/1, S. 2-23, https://doi.org/10.1093/oxrep/grx001.

[1] EUPAN (2018), Innovative Policy Labs in the Public Administration, European Public Administration Network, https://www.eupan.eu/wp-content/uploads/2019/02/2018_1_BG_Innovative_Policy_Labs_in_the_Public_Administration.pdf.

[8] Europäische Kommission (2021), Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft (DESI) 2021 – Deutschland, Europäische Kommission, Brüssel, https://ec.europa.eu/newsroom/dae/redirection/document/80587.

[10] Fahrenholz, P. (2021), „Deutschland ist, denkt und handelt zu kompliziert“, Süddeutsche Zeitung, 9. November, https://www.sueddeutsche.de/politik/digitalisierung-digitalisierungsministerium-ampel-koalition-1.5459070.

[13] Förderberatung des Bundes (o. J.), „Projektträger in der Forschungsförderung“, https://www.foerderinfo.bund.de/foerderinfo/de/beratung/projekttraeger/projekttraeger_node.html.

[2] GOV.UK (o. J.), „About Policy Lab“, GOV.UK, https://openpolicy.blog.gov.uk/about/.

[4] Guerra, I. und A. Luna (2018), „Innovation Culture in the Public Sector: A Learning Experience“, Social Innovation Community, 25. Januar, https://www.siceurope.eu/network/public-sector-innovation/innovation-culture-public-sector-learning-experience.

[19] Harhoff, D., H. Kagermann und M. Stratmenn (Hrsg.) (2018), Impulse für Sprunginnovationen in Deutschland, acatech DISKUSSION, Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, München, https://www.acatech.de/publikation/impulse-fuer-sprunginnovationen-in-deutschland/download-pdf.

[18] MWK (o. J.), „Baden-Württemberg fördert Reallabore“, Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, Stuttgart, https://mwk.baden-wuerttemberg.de/de/forschung/forschungspolitik/wissenschaft-fuer-nachhaltigkeit/reallabore/.

[12] Nanz, P., J. Borggräfe und A. Hassel (2021), „Eine moderne Verwaltung ist Voraussetzung für Deutschlands Zukunftsfähigkeit und Demokratie – Acht Handlungsfelder für die nächste Bundesregierung“, Working Paper, 11. Oktober, https://doi.org/10.5281/zenodo.5560895.

[9] NKR (2021), „OECD fordert stärkere Einbeziehung der Praxis im Gesetzgebungsprozess und Verbesserungen bei Evaluationen“, Pressemitteilung, 6. November, Nationaler Normenkontrollrat, Berlin, https://www.normenkontrollrat.bund.de/nkr-de/service/presse/pressemitteilungen/oecd-organisation-fuer-wirtschaftliche-zusammenarbeit-und-entwicklung-fordert-staerkere-einbeziehung-der-praxis-im-gesetzgebungsprozess-und-verbesserungen-bei-evaluationen-1545.

[11] NKR (2020), Krise als Weckruf: Verwaltung modernisieren, Digitalisierungsschub nutzen, Gesetze praxistauglich machen, Jahresbericht, Nationaler Normenkontrollrat, Berlin, https://www.normenkontrollrat.bund.de/resource/blob/818046/1800428/44bc6f69bc02569670.

[21] NSF (o. J.), „Convergence Research at NSF“, National Science Foundation, Alexandria, https://www.nsf.gov/od/oia/convergence/index.jsp.

[6] Regeringen (2017), „Uppdrag att stärka samordningen mellan myndigheter för en sammanhållen innovationsprocess“, Regierungsbeschluss, https://www.regeringen.se/494cc8/contentassets/6e51b791090445acbe66c51fbe6106ae/n17-01832.pdf.

[15] SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP (2021), Mehr Fortschritt wagen: Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit – Koalitionsvertrag 2021–2025, https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/1990812/04221173eef9a6720059cc353d759a2b/2021-12-10-koav2021-data.pdf.

[3] The GovLab (2016), „MindLab: The evolution of a public innovation lab“, Blogbeitrag, 7. März, The GovLab, NYU Tandon School of Engineering, NYC, https://blog.thegovlab.org/post/mindlab-the-evolution-of-a-public-innovation-lab.

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