Zusammenfassung

Deutschlands Wissenschafts-, Technologie- und Innovationssystem muss sich den durch globale Schocks und die digitale und ökologische Transformation verursachten Herausforderungen stellen

Die sozioökonomischen Folgen der Coronapandemie und die Auswirkungen des russischen Kriegs in der Ukraine haben Schwachstellen in Deutschlands exportorientiertem Wirtschaftsmodell aufgezeigt: eine zu starke Abhängigkeit von Energie aus Russland, eine andauernde Abhängigkeit von fossilen Energieträgern, eine schleppende Digitalisierung sowie konzentrierte und störanfällige Lieferketten der deutschen Industrie. Politik und Wirtschaft sind sich deshalb zunehmend bewusst, dass das Wissenschafts-, Technologie- und Innovationssystem (WTI-System) die Innovationstätigkeit, deren Ziele und die Innovationspolitik neu ausrichten muss. Allerdings hat Deutschland derzeit auch zahlreiche Krisen zu bewältigen, sodass das Risiko besteht, dass diese längerfristigen Fragen vernachlässigt werden. Es führt aber kein Weg daran vorbei, diese längerfristigen Probleme anzugehen, denn Innovation ist der Eckpfeiler des sozioökonomischen Wohlergehens des Landes und eine Stütze für Beschäftigung, Investitionstätigkeit und Arbeitsplatzschaffung.

Die deutsche Wirtschaft agiert nicht in einem stabilen und vorhersehbaren Umfeld, und ebenso wie in vielen anderen Ländern weltweit stellt die digitale und ökologische Transformation auch in Deutschland viele Annahmen über die langfristige Tragfähigkeit des sozioökonomischen Modells infrage. Die digitalen Technologien verändern die Produkte und Verfahren der Innovationstätigkeit und bieten Chancen für völlig neue Geschäftsmodelle in allen Wirtschaftsbereichen. Das Entstehen neuer Unternehmen – wie Tesla im Premiumsegment der globalen Automobilindustrie, das lange von deutschen Firmen dominiert wurde – zeigt die disruptiven Auswirkungen solcher Geschäftsmodelle und digitaler Technologien in Bereichen, die für Deutschland von strategischer Bedeutung sind. In der deutschen Automobilindustrie sind fast eine Million Menschen direkt beschäftigt und viele weitere arbeiten in Tausenden von mittelständischen Zulieferbetrieben. Gerät die deutsche Führungsrolle in diesen Bereichen ernsthaft ins Wanken, hätte das weitreichende Auswirkungen nicht nur auf die Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch auf das sozioökonomische Wohlergehen.

Die digitale und ökologische Transformation und der dadurch in der Weltwirtschaft verursachte Strukturwandel erschüttern mehrere Grundpfeiler, auf denen die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands beruht. Die Unternehmen und Forschungsorganisationen des Landes sind nicht zuletzt dank ihres Humankapitals an sich gut positioniert, um diese Herausforderungen zu bewältigen und gleichzeitig bei der weltweiten Bekämpfung des Klimawandels eine Führungsrolle einzunehmen. Die WTI-Politik muss jedoch reformiert werden, um die Resilienz des deutschen WTI-Systems angesichts wiederholter Schocks zu stärken und für künftige Transformationen besser gewappnet zu sein.

Die politischen Entscheidungsträger*innen dürfen die Auswirkungen der strukturellen wirtschaftlichen Veränderungen auf die Grundpfeiler der deutschen Wirtschaft und die bedeutende Rolle von WTI für das zukünftige sozioökonomische Wohlergehen nicht aus den Augen verlieren. Die WTI-Politik wird in den kommenden Jahren immer wieder Unsicherheiten bewältigen müssen und zur Sicherung der deutschen Führungsrolle im WTI-Bereich zweifellos weder Risiken noch die Beschäftigung mit völlig neuen Wissenschafts- und Technologiebereichen vermeiden können. Für eine Zukunft, in der Deutschland sowohl in seinen Kernbranchen – Autoindustrie, Maschinenbau sowie chemische und pharmazeutische Industrie – als auch in neuen Sektoren eine Führungsrolle einnimmt, muss die Regierung einen risikotoleranteren und kreativeren Ansatz in der WTI-Politik verfolgen.

Die ökologische und digitale Transformation verändert Deutschlands innovative Industriezweige

Das Verarbeitende Gewerbe ist das Zentrum des Innovationssystems des Landes. Innovation entwickelt häufig eine positive Dynamik, in der Erfolg weitere Erfolge bewirkt. Das gilt auch für die Innovation im deutschen Unternehmenssektor. Investitionen in Bildung, Kompetenzen, Technologie und immaterielles Kapital stützen den andauernden Innovationserfolg in einem breiten Fächer von Branchen, insbesondere in der Automobilindustrie und im Maschinenbau. Diese kontinuierliche Innovationstätigkeit hat mehrere Jahrzehnte lang die internationale Wettbewerbsfähigkeit gesichert, was wiederum die Abhängigkeit des sozioökonomischen Wohlergehens vom Handel verstärkt hat. Die Bedeutung der Industrie für Investitionen, Arbeitsplätze und Innovationen prägt die deutsche WTI-Politik und bewirkt, dass politische Programme und Instrumente auf Unternehmen in den entsprechenden Industriebereichen ausgerichtet sind. Doch während Erfolg in der Vergangenheit häufig zu weiteren Erfolgen führte, ist die damalige Leistung heute kein Garant mehr für künftige Wettbewerbsfähigkeit. Das gilt insbesondere in einem Kontext, in dem die innovativen Branchen in Deutschland einem radikalen Wandel ausgesetzt sind.

Die Vorteile des deutschen Wirtschaftsmodells sind klar ersichtlich, es stellt sich aber die Frage, ob die Dominanz bestimmter industrieller Wirtschaftszweige im deutschen WTI-System die Kapazitäten in anderen Branchen beeinträchtigt hat, insbesondere im Bereich der digitalen Technologien, der fortgeschrittenen IKT und der Spitzentechnologien für die ökologische Transformation. Die Digitalisierung der Unternehmen weist in Deutschland eindeutig einen Rückstand gegenüber anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften auf. Zurückzuführen ist dies teilweise auf den langsamen Ausbau einer hochwertigen Breitbandinfrastruktur, relativ niedrige öffentliche Investitionen und unzureichende Unternehmensinvestitionen in immaterielles Kapital – Know-how, Software, geistiges Eigentum sowie Daten- und Managementkapazitäten –, das erforderlich ist, um das innovative Potenzial der digitalen Transformation auszuschöpfen. Dies hat zur Folge, dass die deutsche Wirtschaft, vermutlich eine der weltweit größten Quellen für Industriedaten, einen entscheidenden Input für Innovationen nur unzureichend nutzt. Neben der Herausforderung, die Kompetenzen vom Maschinenbau in digitale Bereiche zu lenken, besteht auch die Schwierigkeit, neue Geschäftsmodelle zu fördern, die auf digitalen Technologien basieren.

Die Digitalisierung in Deutschland weist einen Rückstand auf und findet ebenso wie die Entwicklung von Kompetenzen für Schlüsseltechnologien in einem Kontext statt, in dem sich die meisten innovativen Branchen des Landes und die Märkte, die sie bedienen, maßgeblich verändern. Deutschland muss folglich die Innovationstätigkeit im Hinblick auf Verfahren, Produkte und Ziele überdenken. Technologien wie Quantencomputing und künstliche Intelligenz sowie die Mikroelektronik, die ihnen zugrunde liegt, erfordern andere Kompetenzen als Branchen – wie beispielsweise der Maschinenbau –, in denen Deutschland in der Vergangenheit dominierte.

Im Einklang mit der im Rahmen des Pariser Klimaabkommens eingegangenen Verpflichtung zur Erzielung weltweiter CO2-Neutralität in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts arbeitet Deutschland daran, bis 2050 Treibhausgasneutralität zu erreichen. Die Verwirklichung dieses Ziels erfordert eine radikale Verringerung des Treibhausgas-Fußabdrucks der großen Emittenten, wie der Industrie und des Verkehrs, durch die Umstellung auf nachhaltigere Produktionsmethoden und die verstärkte Nutzung erneuerbarer Energien zur Stromerzeugung. Auf manchen Gebieten – etwa hinsichtlich der individuellen Mobilität – müssen auch Gesellschaft und Verbraucher*innen ihr Verhalten ändern. Diese Transformationsprozesse stellen die Industrie und die Gesellschaft nicht nur vor neue Herausforderungen, sondern verändern auch die Märkte, auf die sich einige der innovativsten deutschen Branchen stützen, grundlegend.

Hinzu kommt, dass die steigende Bedeutung von digitalen Technologien und von Technologien für umweltfreundlichere und weniger CO2-intensive Produktionsmethoden und Erzeugnisse auch Folgen für eine Reihe von Deutschlands international ausgerichteten Industriezweigen hat. Das Verarbeitende Gewerbe ist beispielsweise stark auf Vorleistungen wie Halbleiter und sonstige Mikroelektronik angewiesen, um die sich ändernden Verbrauchererwartungen zu erfüllen, hängt derzeit aber stark von einer geringen Zahl ausländischer Lieferanten ab. Zum einen beeinträchtigt dies die Resilienz – das hat sich während der Coronapandemie gezeigt. Zum anderen wirft es aber auch die Frage auf, ob diese Abhängigkeit das Verarbeitende Gewerbe daran hindert, Innovationskapazitäten in Kernbereichen der künftigen Wertschöpfung aufzubauen.

Der Staat hat die wichtige Aufgabe, diese Transformation zu steuern, die kurz- und mittelfristigen Anpassungskosten zu mindern und die Sprunginnovationen der Zukunftsmärkte zu fördern. Außerdem müssen die Hemmnisse abgebaut werden, die die Entwicklung der Innovationskompetenzen in wichtigen Bereichen der digitalen und ökologischen Transformation in Deutschland behindern. Unter anderem betrifft dies Finanzierungsfragen, die Risikobereitschaft der Politik, Teilhabe und Vielfalt in der Innovationstätigkeit oder auch die Vermarktung wirkungsvoller Forschung. Programme wie SPRIND und die BMWK-Initiative „Von der Idee zum Markterfolg“ sind wichtige Schritte in diese Richtung, es muss jedoch noch mehr getan werden.

Es gibt drei wichtige Bereiche, in denen Deutschland handeln muss, um den künftigen Erfolg zu sichern

Um die Herausforderungen, mit denen die WTI-Politik in Deutschland konfrontiert ist, zu bewältigen, müssen die Entscheidungsträger*innen klären, wie die künftige Innovationspolitik gestaltet werden soll und was erreicht werden soll (Abbildung B).

Ein neuer Ansatz für die WTI-Politik in Deutschland

  • Steuerung und Governance des deutschen WTI-Systems: Die Regierung sollte eine klare Vision entwickeln, was Erfolg in der digitalen und ökologischen Transformation bedeutet und wie das WTI-System dazu beitragen sollte. Ein Schwerpunkt der Governance sollte darin bestehen, die Teilhabe zu sichern, indem bisher unterrepräsentierte Gruppen – beispielsweise Frauen und Migrant*innen – und von den künftigen Veränderungen Betroffene einbezogen werden. Viele Kernfragen können nur gemeinsam mit anderen Ländern gelöst werden; bei der Governance und Entwicklung von Schlüsseltechnologien für die ökologische Transformation muss Deutschland deshalb auf EU-Ebene und darüber hinaus eine Führungsrolle übernehmen.

  • Agile und experimentierfreudige Politik zur Unterstützung der Innovation im Privatsektor: Erfolg hängt im Kontext der Transformation davon ab, inwieweit die Grenzen des derzeitigen Wissens und der bisherigen technologischen Fähigkeiten überwunden werden. Um diese Grenzen zu überschreiten und die globale Innovationsführerschaft Deutschlands zu konsolidieren, ist ein agilerer und experimentierfreudigerer Ansatz erforderlich und die Politik muss bereit sein, den Innovationsträgern des Landes kreativ regulatorische Sicherheit zu bieten. Das im Bericht vorgeschlagene Labor könnte als zentrale Plattform dienen, um experimentierfreudige Politik zu fördern und besonders vielversprechende Ansätze zu skalieren.

Schlüsselmaßnahmen zur Unterstützung der Innovation in der digitalen und ökologischen Transformation

  • Politische Maßnahmen, die die Schaffung von Märkten und Sprunginnovationen unterstützen können: Ein risikotoleranteres Vorgehen der Regierung zur Unterstützung von Sprunginnovationen könnte die Vermarktung von wirkungsvollen Innovationen beschleunigen und die Schaffung von Zukunftsmärkten fördern. Die Politik sollte außerdem sicherstellen, dass Unternehmen auf die für ihre Innovationstätigkeit erforderlichen Daten zugreifen können und die nötigen Kompetenzen zu deren Verarbeitung sowie zur Nutzung anderer Inputs besitzen. Darüber hinaus sollte sie die dafür erforderliche Infrastruktur bereitstellen und sicherstellen, dass wirkungsvolle Ideen und Forschungsergebnisse zwischen den Sektoren und Disziplinen ausgetauscht werden können.

Es ist normal, dass die öffentlichen Haushalte in Krisenzeiten, in denen die Regierungen hohe und unerwartete Ausgaben tätigen müssen, unter Druck kommen können und dass legitimen sozialen Anliegen Priorität gegenüber der WTI-Politik eingeräumt wird. In diesem Bericht wird deshalb der Schwerpunkt auf neue Verfahren und Ansätze gelegt, die keine zusätzlichen Finanzmittel erfordern. Dazu gehört z. B. eine experimentierfreudige und flexible Regulierung oder auch der verstärkte Einsatz der öffentlichen Beschaffung zur Stärkung der Innovation. Die Empfehlungen sind durchführbar und wirkungsvoll – trotz der unsicheren Entwicklung der öffentlichen Haushalte in den kommenden Jahren.

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