Kapitel 5. Zwölf Empfehlungen zur Messung der Lebensqualität

Abschließend seien noch drei grundsätzliche Aspekte erörtert:

Die Vielzahl an Initiativen, die seit der Veröffentlichung des Kommissionsberichts im Jahr 2009 ins Leben gerufen wurden, hat unsere Erwartungen, wie bereits erwähnt, bei Weitem übertroffen. Unser Messansatz ist von einem „Nischenmodell“, dessen Annahmen und Werthaltungen in Fußnoten vermerkt und schnell wieder vergessen wurden, zu einer „Bewegung“ avanciert, die von Forschern, Politikanalysten, Statistikämtern, internationalen Organisationen und Finanzministerien – den traditionellen Wächtern der Finanzorthodoxie – getragen wird. Unserer Ansicht nach ist dieser Erfolg nicht nur auf die konkreten Argumente und Empfehlungen im Kommissionsbericht zurückzuführen, sondern auch darauf, dass es uns gelungen ist, eine unterschwellige gesellschaftliche Stimmung einzufangen und allgemeinen Bedenken Ausdruck zu verleihen. Im Kommissionsbericht von 2009 wurde zudem ein begriffliches Instrumentarium entwickelt, durch das sich die Agenda zur Wohlstandsmessung jenseits des BIP verschiedensten Akteuren erschließt, da es Bezüge zwischen Forschungsbereichen herstellt, die bis dahin als unzusammenhängende und zuweilen im Widerspruch zueinander stehende Bereiche wahrgenommen wurden. Außerdem wurden darin die wissenschaftliche Forschung und die statistische Praxis wieder zusammengeführt, was auch in Zukunft gewährleistet bleiben muss.

Die Agenda zur Wohlstandsmessung jenseits des BIP wird zuweilen als „wachstumsfeindlich“ beschrieben. Dies wird dem Ansatz, der diesem Buch zugrunde liegt, jedoch nicht gerecht. Durch den Einsatz eines umfassenderen, aber überschaubaren Indikatoren-Dashboards, das die Werte der Gesellschaft widerspiegelt, hätte man, wie weiter oben dargelegt, höchstwahrscheinlich ein stärkeres BIP-Wachstum erreicht, als dies in den meisten Ländern nach der Krise de facto der Fall war. Ein Wachstum, das sich in einem Anstieg des BIP niederschlägt, aber nicht mit einer Verbesserung der Lebensqualität der meisten Bürger einhergeht, die Umweltzerstörung und die Erschöpfung natürlicher Ressourcen ausklammert, die Unsicherheit für Wirtschaft und Bürger erhöht, das Vertrauen in unsere Institutionen und die Gesellschaft untergräbt und aufgrund der unterschiedlichen Behandlung verschiedener ethnischer Gruppen zu Konflikten führt, ist, so unsere Argumentation, kein „echtes“ Wachstum. Von einer Kennzahl, die nicht all diesen Dimensionen Rechnung tragen kann, sollten wir uns nicht beeindrucken lassen. Unser Fokus sollte vielmehr auf dem „echten“ Wachstum liegen, einem, das gerecht und nachhaltig ist.

Das bedeutet auch, dass wir uns gegen die verkürzte Sichtweise aussprechen, der zufolge die Wirtschaft als ein vom gesellschaftlichen und natürlichen Umfeld unabhängiges System zu betrachten ist, in dem die Produktionsfaktoren immer voll ausgelastet sind, und das einzige Anliegen der Politik darin besteht, die wirtschaftliche Effizienz zu maximieren, also „mit weniger mehr zu erreichen“. In der traditionellen Wirtschaftstheorie galt es fast als Axiom, dass das BIP, das mit dem gesellschaftlichen Wohlergehen gleichgesetzt wurde, maximiert werden muss. Das massive Marktversagen, das die ökonomische Theorie des vergangenen Jahrhunderts aufgezeigt hatte, wurde ausgeklammert. Gleiches gilt für die begrenzten Ressourcen auf unserem Planeten und die vielen Dimensionen der Lebensqualität, die mit dem BIP nicht angemessen erfasst werden und in denen bei einem Anstieg des BIP sogar eine Verschlechterung auftreten kann. Die Agenda zur Wohlstandsmessung jenseits des BIP fand weltweit so große Resonanz, weil die Mehrheit der Bürger – und nun endlich auch der Ökonomen – erkannt hatte, dass das BIP kein adäquates Maß für die Lebensqualität ist und die Wirtschaft ein Mittel zum Zweck – und zwar dem, die Lebensqualität aller Bürger jetzt und in Zukunft zu verbessern. Die Finanzkrise 2008 und die politische Krise 2016 hatten wohl deutlich gemacht, wozu ein zu enger Blickwinkel führt: Unter Umständen wird dadurch selbst das BIP beeinträchtigt, mit Sicherheit aber die wirtschaftliche Leistung und der soziale Fortschritt, um die es eigentlich geht. Unsere statistischen Indikatoren – das hier vorgeschlagene Dashboard, das auf einem nationalen Dialog fußt und die Werte und Gegebenheiten des jeweiligen Landes widerspiegelt – können maßgeblich zu einer Perspektivenerweiterung beitragen. Tabelle A.2 im Anhang zeigt am Beispiel des Berichts How‘s Life? der OECD, welche Art von Indikatoren in einem solchen Dashboard berücksichtigt werden könnte (OECD, 2017a).

Wir sind zwar vorangekommen, am Ziel sind wir jedoch noch lange nicht. Wissenschaftler, Fachleute, Statistiker, Meinungsbildner und Politikverantwortliche werden weiterhin Überzeugungsarbeit leisten und die Agenda mit konkreten und praktischen Maßnahmen vorantreiben müssen. Trotz der erzielten Fortschritte sind die meisten Empfehlungen im Bericht der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission aus dem Jahr 2009 auch heute noch gültig, und wir hoffen, dass bei der Umsetzung künftig weitere Erfolge verbucht werden können. Aufbauend auf den Arbeiten der HLEG präsentieren wir in Kasten 5.1 zwölf Empfehlungen, die unserer Ansicht nach zusätzliche Weichenstellungen für die vor uns liegende Arbeit ermöglichen könnten.

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