Vorwort

In jüngster Zeit expandieren in vielen Ländern durch Technologie begünstigte Arbeitsformen wie Crowdwork und Arbeit nach Bedarf über Apps und Plattformen. Aber auch andere neue Beschäftigungsformen wie Gelegenheitsarbeit (Abrufarbeitsverhältnisse, gutscheinbasierte und Nullstunden-Arbeitsverträge sowie Mini-/Flexi-Jobs) haben zugenommen. Außerdem hat das Wachstum im Bereich der Untervergabe und Auslagerung zu einer Zunahme selbstständiger Arbeit geführt.

Für manche Arbeitskräfte stellen diese „neuen“ Arbeitsformen ein Zusatzeinkommen dar, während andere die Flexibilität schätzen, die diese in Bezug auf die Arbeitsweise und den Arbeitsort bieten, da sich Beruf und Privatleben so besser vereinbaren lassen. Für viele andere Arbeitskräfte bedeuten diese neuen Arbeitsformen jedoch eine geringere Beschäftigungsqualität, d.h. geringere Arbeitsplatzsicherheit, weniger Sozialschutz, Verdienstnachteile oder mangelndes Mitspracherecht. Neuere Belege (OECD, 2019[1]) lassen in der Tat darauf schließen, dass die Mobilität auf dem Arbeitsmarkt zugenommen hat und dass die Dauer der Beschäftigungsverhältnisse abnimmt, sobald eine Berichtigung um die Bevölkerungsalterung vorgenommen wurde. Diese Trends, die in der Regel vor allem Jugendliche und Geringqualifizierte betreffen, geben im Hinblick auf die Beschäftigungsqualität und die Tragfähigkeit der Sozialschutzsysteme Anlass zur Sorge.

Die zunehmende Mobilität auf dem Arbeitsmarkt, die durch den Anstieg atypischer Beschäftigungsformen vorangetrieben wird, lässt auch Bedenken im Hinblick auf weiterführendes Lernen aufkommen. OECD-Untersuchungen zufolge besteht bereits ein erhebliches Weiterbildungsdefizit, da Volkswirtschaften einen tiefgreifenden Strukturwandel durchlaufen, mit einem Beschäftigungsrückgang im Verarbeitenden Gewerbe und einem Beschäftigungswachstum im Dienstleistungssektor (OECD, 2019[1]). Noch größer werden diese Herausforderungen in Ländern, die einen Anstieg der Zahl der atypisch Beschäftigten verzeichnen, die im Durchschnitt mit geringerer Wahrscheinlichkeit an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen. In bestimmten Fällen haben diese Arbeitskräfte möglicherweise keinen Arbeitgeber, der die Finanzierung ihrer Weiterbildung übernimmt, da sie als unabhängige Auftragnehmer tätig sind. In anderen Fällen haben Arbeitskräfte entweder mehrere Arbeitgeber oder wechseln häufig den Arbeitgeber, sodass für letztere nur geringe Anreize bestehen, in die Kompetenzen von Arbeitskräften zu investieren, mit denen sie nur sehr kurze Arbeitsbeziehungen haben werden. Vielen Arbeitskräften, die in diesen neuen Arbeitsformen tätig sind, fällt es möglicherweise auch schwer, Zugang zu guter Information, Beratung und Orientierung zu erhalten. Schließlich können bestimmte Arbeitsbedingungen die Teilnahme an Weiterbildung erschweren, z.B. wenn Arbeitszeiten und -orte nicht genau definiert sind. Dies sind Herausforderungen, denen sich auch Arbeitskräfte in „traditionelleren“ atypischen Beschäftigungsformen, einschließlich Zeitarbeitskräften und Selbstständigen, gegenübersehen.

Vor diesem Hintergrund stieß der Gedanke, ein individuelles Lern-/Weiterbildungskonto für jeden Einzelnen einzurichten, bei der Politik auf großes Interesse. Ein solches Konto gäbe jedem die Möglichkeit, Weiterbildungsansprüche zu sammeln sowie sie von einem Arbeitsplatz bzw. Beschäftigungsstatus auf den anderen zu übertragen und würde außerdem individuelle Investitionen in lebenslanges Lernen fördern. Weiterbildungskonten sind zwar in aller Munde und viele Länder erwägen ihre Einrichtung, doch ist relativ wenig über sie bekannt. Ziel dieses Berichts ist es, politisch Verantwortliche bei der Gestaltung solcher Konten zu unterstützen und ihnen eine Checkliste mit den zu beachtenden Punkten an die Hand zu geben, damit derartige Programme zum Erfolg führen. Hierfür wurden anhand detaillierter Fallstudien und einer Analyse der einschlägigen Fachliteratur die Erfahrungen mit bestehenden und früheren Programmen untersucht.

Eine der Herausforderungen war dabei, dass es bis heute nur ein echtes Weiterbildungskonto gibt, nämlich das in Frankreich bestehende Compte Personnel de Formation (CPF). Daher wurde für den Bericht ein breiterer Ansatz gewählt. Es werden individuelle Weiterbildungs- bzw. Lernprogramme (individual learning schemes – ILS) betrachtet, insbesondere a) effektive individuelle Konten, auf denen im Lauf der Zeit Ansprüche/Spareinlagen für die Weiterbildung – die vom Einzelnen finanziert und vom Staat und in einigen Fällen vom Arbeitgeber gefördert wird – angesammelt werden, sowie b) gutscheinbasierte Programme, die Weiterbildung durch staatliche Direktzahlungen fördern, manchmal mit einem Beitrag des Teilnehmers. Individuelle Lernprogramme sind nicht neu. Sie wurden ursprünglich in den frühen 1990er Jahren mit dem Ziel eingeführt, einen „Markt“ für Kompetenzen zu schaffen, auf dem der Einzelne seine Weiterbildung aus einer Reihe von Kursen auswählen kann, deren Anbieter miteinander im Wettbewerb stehen. Das derzeitige Interesse an individuellen Lernprogrammen ist etwas anders und richtet sich vor allem auf ihr Potenzial, Weiterbildungsansprüche nicht an Arbeitsplätze, sondern an Einzelpersonen zu knüpfen, und damit auf ihre Fähigkeit, die Übertragbarkeit von Weiterbildungsansprüchen auf einen anderen Arbeitsplatz und von einem Beschäftigungsstatus zum anderen zu erhöhen. Dies ist ein Hauptziel des Compte Personnel de Formation, das seit 2015 in Frankreich besteht, sowie des kürzlich geschaffenen Canada Training Credit.

Im Rahmen dieses Berichts hat die OECD sechs neue Fallstudien in Auftrag gegeben.1 Zu den Fallstudien gehören: das französische Compte Personnel de Formation, das oberösterreichische Bildungskonto, die schottischen Individual Learning Accounts/Individual Training Accounts (ILA/ITA), der singapurische SkillsFuture Credit (SFC), die toskanische Carta ILA und die Individual Training Accounts (ITA) in Michigan und Washington in den Vereinigten Staaten.2 In den Fallstudien, die sich auf gemeinsame Leitlinien stützen, wurden verfügbare Daten und eventuell bestehende Evaluierungen sowie qualitatives Material verwendet, das in Interviews mit verschiedenen an den Programmen beteiligten Akteuren gesammelt wurde.

Der Bericht untersucht diese und andere in der Literatur beschriebene Erfahrungen, um die Vor- und Nachteile dieser Programme sowie die wichtigsten Zielkonflikte und Fragen herauszuarbeiten, die es bei der Konzeption eines erfolgreichen Programms zu beachten gilt. Die gewonnenen Erkenntnisse sind sowohl von Relevanz, wenn es um die Gestaltung individueller Weiterbildungskonten (wie oben beschrieben) als auch im weiteren Sinne individueller Lernprogramme geht. Abschnitt 1 beginnt mit der Definition individueller Lernprogramme und der Erörterung ihrer Ziele. Abschnitt 2 untersucht die Ausgestaltung dieser Programme. In Abschnitt 3 werden Ergebnisse dargestellt, insbesondere in Bezug auf die Weiterbildungsbeteiligung und die Art der Weiterbildung, die in Anspruch genommen wird. In Abschnitt 4 wird erörtert, inwieweit es individuellen Lernprogrammen gelingt, die Weiterbildungsbeteiligung von unterrepräsentierten Gruppen zu erhöhen. Abschnitt 5 untersucht Fragen der Weiterbildungsqualität im Zusammenhang mit individuellen Lernprogrammen. Schließlich liefert Abschnitt 6 einige Schlussfolgerungen und befasst sich mit den sich aus der Analyse ergebenden Zielkonflikten.

Anmerkungen

← 1. Dieser Bericht wurde vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales unterstützt.

← 2. Die Fallstudien wurden von Lorenz Lassnigg und David Baumegger vom Institut für Höhere Studien für das Bildungskonto, Coralie Perez vom Centre d'Economie de la Sorbonne und Ann Vourc'h von der OECD für das CPF, Denis Donoghue von Hall Aitken für das schottische ILA/ITA, Johnny Sung vom Centre for Skills, Performance and Productivity für SkillsFuture Credits, Marco Betti von der Universität Siena für Carta ILA und Randall W. Eberts vom Upjohn Institute für das ITA in Michigan und Washington in den Vereinigten Staaten durchgeführt. Der Anhang enthält eine zusammenfassende Darstellung der einzelnen Programme.

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