Kapitel 3. Nötige Arbeiten im Anschluss an die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission

Zwar hat sich seit dem Bericht der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission im Jahr 2009 in Bezug auf hochrangige nationale Initiativen, die Erstellung von Statistiken und in der Forschung viel getan, es war jedoch auch klar, dass es auf verschiedenen Gebieten einer stärkeren Fokussierung und weiterer Arbeiten bedarf. Fünf Jahre später wurde daher beschlossen, eine bei der OECD angesiedelte Hochrangige Sachverständigengruppe (High-Level Expert Group – HLEG) zur Weiterführung der Arbeiten einzusetzen, um eine Bestandsaufnahme der Fortschritte vorzunehmen, die Richtung vorzugeben und die Dynamik aufrechtzuerhalten sowie neue Gebiete aufzuzeigen, auf denen es weiterer Arbeiten bedarf. Die HLEG beschloss, sich auf neun große Bereiche zu konzentrieren: die Ziele für nachhaltige Entwicklung, besonders auch aus globaler Perspektive und aus Sicht der Entwicklungsländer; Einkommens- und Vermögensungleichheiten; horizontale Ungleichheiten, d. h. Ungleichheiten zwischen Gruppen von Personen, die dieselben Merkmale aufweisen; Einbeziehung von Daten zu wirtschaftlichen Ungleichheiten in die makroökonomischen Statistiken; Chancenungleichheit; subjektives Wohlbefinden; wirtschaftliche Unsicherheit; Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit sowie Vertrauen. Während der Begleitband Aufsätze zu jedem dieser Themen enthält, bringen wir im Folgenden unsere eigene Sichtweise auf diese Themen zum Ausdruck.

In Kapitel 1 haben wir erwähnt, dass eine der großen Veränderungen seit Veröffentlichung des Kommissionsberichts im Jahr 2009 die Vereinbarung eines Katalogs von Zielen für nachhaltige Entwicklung war, womit globale Standards festgelegt wurden, die für Industrie- und Entwicklungsländer gleichermaßen gelten. Diese 2015 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommenen Ziele gingen deutlich über die Millenniumsentwicklungsziele hinaus, die im Jahr 2000 als bis 2015 zu erreichende Ambitionen der Entwicklungsgemeinschaft formuliert worden waren (Tabelle 3.1). Im Rahmen der Ziele für nachhaltige Entwicklung sind wirtschaftliche und soziale Fortschritte für alle Menschen ebenso wie eine ökologisch, sozial und wirtschaftlich nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten.

Die Zahl der Ziele wurde von 8 auf 17 erhöht, die mit 169 Unterzielen verknüpft wurden. Die Ziele richteten das Augenmerk der Politikverantwortlichen und Bürger auf die von der Staatengemeinschaft als wichtig erachteten Themen. Wie der frühere Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki-Moon sagte: „Sie [die Millenniumsentwicklungsziele] waren Anstoß für neue und innovative Partnerschaften, rüttelten die Weltöffentlichkeit auf und zeigten den enormen Wert ambitionierter Zielsetzungen“ (Vereinte Nationen, 2015). Die Hoffnung war, dass die Ziele für nachhaltige Entwicklung eine ähnliche Aufgabe erfüllen würden.

Die größere Anzahl von Zielen ergibt sich aus einem unvermeidlichen Spannungsverhältnis. Dem Streben nach Erweiterung und Ausweitung der Indikatoren zur Beurteilung und Überwachung der wirtschaftlichen und sozialen Fortschritte steht die Notwendigkeit gegenüber, eine relativ geringe Anzahl von Indikatoren stets „auf dem Schirm“ zu haben, um den Diskurs und die Politikgestaltung auf nationaler Ebene zu erleichtern. Natürlich gewinnen wir ein vollständigeres Bild der Situation, je genauer und aufgeschlüsselter die Daten sind. Da die menschliche Aufmerksamkeitsspanne jedoch begrenzt ist, müssen die Indikatoren gestrafft werden. Dies gilt umso mehr, wenn die Statistiken Einfluss auf die öffentliche Debatte nehmen sollen. Der Kommission gelang die Quadratur des Kreises, indem sie für ein Indikatoren-Dashboard warb. Allerdings sind die von der Staatengemeinschaft vereinbarten 169 Unterziele der Ziele für nachhaltige Entwicklung mit ihren 232 Indikatoren für das „globale Monitoring“ eindeutig zu zahlreich.

Besonders für die Entwicklungsländer, in denen die Ressourcen – vor allem auch des notwendigen Personals, um die für die Erreichung der Ziele erforderlichen Maßnahmen zu konzipieren und umzusetzen und die zahlreichen Indikatoren für die Fortschrittsmessung zu entwickeln – begrenzt sind, ist eine Fokussierung wichtig.

Da sich die Lage in den einzelnen Ländern unterscheidet, ist es nur natürlich und richtig, dass sie sich auch auf unterschiedliche Ziele konzentrieren. Besonders deutlich dürften die Unterschiede zwischen den fortgeschrittenen Volkswirtschaften und den Entwicklungsländern ausfallen. Während die erstgenannten beispielsweise überwiegend relativ hohe Beschäftigungsquoten im formellen Sektor und ein niedriges Niveau der extremen Armut erreicht haben, sind der Mangel an produktiver Beschäftigung und die große Armut in den meisten Entwicklungsländern nach wie vor ein zentrales Problem. Wenn die Länder jedoch unterschiedliche Ziele verfolgen, beeinträchtigt dies die Vergleichbarkeit zwischen den Ländern. Die Länder müssen die Vorteile der Vergleichbarkeit selbst erkennen: Um zu wissen, wie man abschneidet, muss man wissen, welche Ergebnisse andere Länder in ähnlicher Lage erzielen. Allerdings dürften viele ähnlich situierte Länder auch jeweils ähnliche Ziele verfolgen.

Selbst wenn die Liste der Ziele beschlossen ist, kann die Wahl der Messgrößen einen Unterschied ausmachen – eine weitere Botschaft der Kommission –, und für Entwicklungsländer können andere Messgrößen wichtig sein als für weiter fortgeschrittene Volkswirtschaften.

Im Fall von SDG 1 („Armut beenden“) beispielsweise ist der vom Statistischen Ausschuss der Vereinten Nationen vereinbarte Indikator für Unterziel 1.1 („Bis 2030 die extreme Armut für alle Menschen überall auf der Welt beseitigen“) die Zahl der Menschen, die unter der globalen Armutsgrenze von 1,9 USD pro Person pro Tag leben.1 Die meisten fortgeschrittenen Volkswirtschaften dürften dieses Ziel bereits erreicht haben: Armut hat in der entwickelten Welt in der Regel eine ganz andere Bedeutung.2

Oder betrachten wir SDG 10 („Ungleichheit verringern“). Der für Unterziel 10.1 („Bis 2030 nach und nach ein über dem nationalen Durchschnitt liegendes Einkommenswachstum der ärmsten 40 % der Bevölkerung erreichen und aufrechterhalten“) gewählte Indikator ist die Wachstumsrate der Haushaltsausgaben oder Pro-Kopf-Einkommen der unteren 40 % der Bevölkerung. Jose Gabriel Palma von der Universität Cambridge vertritt die Auffassung, dass das Verhältnis zwischen dem Einkommensanteil der obersten 10 % der Bevölkerung und dem Anteil der ärmsten 40 % ein sensitiverer Indikator der Einkommensungleichheit ist, vor allem für aufstrebende Volkswirtschaften und Entwicklungsländer (Palma, 2016). Er stellt fest, dass der Einkommensanteil der Mittelklasse zumindest in Ländern der mittleren Einkommensgruppe und in den Entwicklungsländern ungefähr ähnlich groß zu sein scheint, sodass sich Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern besser anhand dieses Verhältnisses aufzeigen lassen. Doyle und Stiglitz (2014) wiesen daher darauf hin, dass es möglicherweise vorzuziehen wäre, die Palma-Verhältniszahl als Indikator der Einkommensungleichheit für die SDG zu verwenden.

Indikatoren beruhen natürlich auf Werten und Anliegen. Das von der Weltbank vorgeschlagene Unterziel 10.1 bezieht sich auf einen inklusiveren Indikator als die extreme Armut, steht jedoch weiter mit dem traditionellen Fokus der Institution im Einklang, die den unteren Teil der Verteilung im Blick hat.

Eine wichtige Frage, die Kanbur, Patel und Stiglitz in ihrem Kapitel für den Begleitbericht aufwerfen, betrifft die Indikatoren für globale Anliegen. Insbesondere müssen wir wissen, was in Bezug auf den Klimawandel geschieht. (Voraussetzung hierfür ist die Messung der globalen CO2-Emissionen der wirtschaftlichen Tätigkeiten eines Landes – d. h. sowohl derjenigen, die bei der Produktion innerhalb der Landesgrenzen entstehen, als auch derjenigen, die durch die Importe eines Landes zur Befriedigung der Inlandsnachfrage verursacht werden). Es wäre auch sehr interessant zu wissen, wie sich die globale Einkommensungleichheit entwickelt (die Ungleichheit, die zu beobachten wäre, wenn alle Menschen weltweit nach ihrem Einkommen eingestuft würden, als ob sie im selben Land leben würden). Hierdurch ließen sich insbesondere die ausgleichenden Wirkungen größerer Ungleichheiten innerhalb von Ländern und geringerer Einkommensungleichheiten zwischen den Ländern besser beurteilen (Deaton, 2013; Milanovic, 2016). Die nationalen Statistikämter sollten hinreichend vergleichbare Daten erheben, damit wir die Entwicklungen auf beiden Gebieten angemessen schätzen können.

Als der Bericht von Stiglitz, Sen und Fitoussi (2009) veröffentlicht wurde, waren wir uns sehr bewusst, dass das BIP u. a. aufgrund der mangelnden Berücksichtigung der Verteilung kein guter Indikator der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung war: Eine Gesellschaft, in der die meisten Menschen kaum über die Runden kommen, einige wenige jedoch sehr gut abschneiden, kann in einem ganz grundlegenden Sinn nicht als gut funktionierende Volkswirtschaft bezeichnet werden, selbst wenn das BIP – möglicherweise sogar rasch – steigt. Genau dies traf jedoch auf die Vereinigten Staaten und die meisten anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften zu. Anhand der Messgröße des BIP schien die Wirtschaft der Vereinigten Staaten relativ gute Ergebnisse aufzuweisen. Die Betrachtung von Messgrößen, die die Verteilung berücksichtigten, ergab jedoch ein ganz anderes Bild. Manche Kommentatoren brachten die Situation wie folgt auf den Punkt: Die Vereinigten Staaten waren ein großartiges Land, wenn man in die obersten 1 % oder – noch besser – in die obersten 0,1 % hineingeboren wurde; für die unteren 90 % sah es jedoch ganz anders aus.

Seit Veröffentlichung des Stiglitz-Sen-Fitoussi-Berichts richtet sich deutlich mehr Aufmerksamkeit auf die Einkommensungleichheit. Dies ist zum einen der Verfügbarkeit neuer Daten zu verdanken, die zeigen, dass dieser Anstieg langfristig ist und ein immer größerer Einkommensanteil auf diese 1 % entfällt (Piketty, 2014), und zum anderen schlicht dem Umfang des Anstiegs der Einkommensungleichheit geschuldet, der seit Ende der 1970er Jahre verzeichnet wurde. Vergleichende Datenanalysen haben jedoch auch gezeigt, dass die Zunahme der Ungleichheit in den einzelnen Ländern unterschiedlich hoch ausfällt. Dies lässt den Schluss zu, dass länderspezifischen Faktoren – vor allem Politikmaßnahmen und Institutionen – erhebliche Bedeutung zukommt.

Einkommensungleichheit, ihre Ursachen, Folgen und mögliche Gegenmaßnahmen sind somit weltweit in den Blickpunkt der politischen Debatte gerückt. Dies ist eine neue und wichtige Entwicklung, die auch auf die Beiträge von mehreren Mitgliedern der HLEG (Fitoussi und Rosanvallon, 1996; Fitoussi und Stiglitz, 2013; López-Calva und Lustig, 2010; Bourguignon, 2012b; Stiglitz, 2012a; Piketty, 2014; Deaton, 2013; Atkinson, 2015) und internationalen Organisationen (OECD, 2008, 2015; IWF, 2017; Ostry, Berg und Tsangarides, 2014) zurückzuführen ist. Die Forschung hat eine Reihe von Faktoren aufgezeigt, die Einkommensdisparitäten und ihre Ausweitung im Zeitverlauf begünstigt haben. Hierzu zählen sowohl Veränderungen der Wirtschaftsstruktur (Globalisierung, kompetenzorientierter technologischer Wandel, die zunehmende Bedeutung des Dienstleistungssektors, vor allem des Finanzsektors, der in vielen Sektoren zu beobachtende Anstieg der Marktmacht von Unternehmen) als auch die schrumpfende Verhandlungsmacht der Arbeitskräfte, die selbst durch einige der vorgenannten Veränderungen bedingt ist. Politikänderungen wirken sich auf die Verteilung sowohl der Markt- als auch der verfügbaren Einkommen aus. Dies gilt für Änderungen der Arbeitsmarktregulierung, der Corporate Governance und der Globalisierung sowie der Kartellgesetze, Politikänderungen, die den intergenerationalen Transfer von Begünstigungen und Benachteiligungen beeinflussen – z. B. Erbschaftsteuern und öffentliche Bildung – sowie Maßnahmen, die sich auf die Umverteilung anhand von Steuern und Transferleistungen auswirken (Stiglitz, 2015; Inchauste und Lustig, 2017). In jedem Fall werden für Maßnahmen, die die Ungleichheit verringern sollen, jedoch bessere Daten benötigt. Zudem müssen die Wirkungen alternativer Politikmaßnahmen auf die Einkommens- und Vermögensverteilung in den politischen Erörterungen systematischer berücksichtigt werden.

Im Stiglitz-Sen-Fitoussi-Bericht wurde hervorgehoben, dass die Ungleichheiten nicht nur bei den Einkommen und den Vermögen erheblich sind, sondern auch bei allen anderen Aspekten der Lebensqualität: Gesundheit, Bildung, politische Mitsprache, Unsicherheit, Zugang zur Justiz, Chancen. Viele dieser Ungleichheitsmaße hängen miteinander zusammen, sodass die betroffenen Haushalte oder Personen in Bezug auf viele dieser Aspekte zugleich benachteiligt sind. In dem Bericht wurde die Auffassung vertreten, dass der einzelne private Haushalt (oder noch besser das Individuum) die Analyseeinheit sein sollte und alle Aspekte, die sich auf die Lebensqualität auswirken, gleichzeitig betrachtet werden sollten. Anhand der Dashboard-Indikatoren muss z. B. erkennbar werden, wie sich die durchschnittliche Gesundheit entwickelt, aber auch, wem es gesundheitlich gut oder schlecht geht. In der bereits erwähnten Case-Deaton-Studie (2015) wird dieses Problem verdeutlicht: Auch wenn die Lebenserwartung im Durchschnitt steigt und die Mortalität rückläufig ist, trifft auf weiße Amerikaner, die lediglich über Sekundarschulbildung verfügen, das Gegenteil zu. Diese Gruppe musste überdies auch Einkommensrückgänge hinnehmen. (Dieselben Probleme treten auch bei länderübergreifenden Vergleichen auf.)

Über 30 Jahre lang schrumpfte zwar die Einkommenslücke zwischen den aufstrebenden Volkswirtschaften (z. B. China, Indien und Brasilien) und den Industrieländern, das Einkommensgefälle in den meisten – wenn auch nicht allen – fortgeschrittenen Volkswirtschaften stieg jedoch. OECD-Daten zufolge kam es in 18 von 23 OECD-Ländern zwischen Mitte der 1980er Jahre und ca. 2013 zu einem erheblichen Anstieg der Ungleichheit bei den Einkommen (OECD, 2015a, S. 24). In manchen Fällen wurde die Zunahme der Ungleichheit bei den Markteinkommen durch Steuer- und Transfermaßnahmen ausgeglichen. In anderen, insbesondere in den Vereinigten Staaten, gab es keine Ausgleichsmaßnahmen. Die resultierenden Statistiken können nur als besorgniserregend bezeichnet werden. Im Jahr 2017 lag das inflationsbereinigte Familieneinkommen im Median kaum über dem Stand von vor 25 Jahren, die Reallöhne waren kaum höher als 60 Jahre zuvor und das reale Medianeinkommen einer vollzeitig beschäftigten männlichen Arbeitskraft war niedriger als 41 Jahre früher.

Die Vereinigten Staaten waren zwar das Extrembeispiel, in anderen Ländern war die Situation jedoch kaum besser. OECD-Studien zeigten, dass sich die Einkommensungleichheiten selbst in Ländern wie Schweden, die zuvor den Ruf einer egalitären Gesellschaft erworben hatten, stark erhöht hatten. Allerdings waren die Einkommensdisparitäten in diesen Ländern trotz der hohen Zuwächse immer noch deutlich geringer als in anderen. Auch in den meisten aufstrebenden Volkswirtschaften war ein starker Anstieg der Ungleichheit bei den Einkommen zu verzeichnen.

Branko Milanovic führte die Entwicklungen innerhalb und zwischen den Ländern zu einem globalen Bild zusammen (Milanovic, 2016). Das nachstehend abgedruckte Diagramm (Abbildung 3.1) fasst einen Großteil der Entwicklung zusammen. Zwei Gruppen haben sehr gute Ergebnisse erzielt: die globale Spitze (Punkt D im Diagramm), d. h. die obersten 1 %, und die aufstrebende Mittelklasse in China und Indien um das 50. Perzentil (Punkt C). Diese beiden Gruppen sind die Hauptgewinner der Globalisierung. Umgekehrt haben zwei weitere Gruppen nicht gut abgeschnitten: diejenigen am unteren Ende der Verteilung, z. B. Personen in Konfliktgebieten und Subsistenzlandwirte in Entwicklungsländern (Punkt A), die z. T. unter europäischen und US-amerikanischen Agrarsubventionen leiden, und die Arbeiter-/Mittelklasse in Europa und Amerika (Punkt B), insbesondere Personen mit begrenzter Bildung.

Bei Verwendung des Standardindikators für die Messung der Ungleichheit, des Gini-Koeffizienten (vgl. die Erörterung weiter unten), gleichen sich der Effekt einer Verringerung der Ungleichheit zwischen den Ländern und der Effekt eines Anstiegs der Ungleichheit innerhalb der Länder weitgehend aus.3 Wenn Abbildung 3.1 aber in einer einzigen Zahl wie dem Gini-Koeffizienten zusammengefasst wird, gehen Aspekte wie die Unzufriedenheit der Mittelschicht in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften und der Menschen am unteren Ende der Einkommenspyramide sowie die überhöhten Gewinne der Superreichen darin unter.

Milanovics Daten werden möglicherweise durch eine Reihe von Annahmen und Messproblemen beeinträchtigt (Kharas und Seidel, 2018)4 und geben keine vollständige Auskunft über die Größenordnung der Schwankungen bei Umfang und Veränderungen der Einkommensdisparitäten zwischen den Ländern. Die Einkommensungleichheit ist (den meisten Kennzahlen zufolge) in den Vereinigten Staaten nicht nur höher als in den anderen fortgeschrittenen Ländern, sondern hat dort auch den größten Anstieg verzeichnet. In mehreren OECD-Ländern konzentrierte sich der Anstieg der Ungleichheit auf den Anfang der 1990er Jahre, wohingegen die Ungleichheiten in Deutschland erst ab Anfang der 2000er Jahre zunahmen und in Frankreich erst ab Ende der 2000er Jahre (Bourguignon, 2012b). In einigen lateinamerikanischen Ländern sank die Einkommensungleichheit sogar, wenn auch ausgehend von einem hohen Niveau. In manchen Ländern, wie z. B. China, konnte die Armut massiv verringert werden, auch wenn die Einkommensungleichheit parallel dazu stieg, da die reichen Bevölkerungsschichten größere Einkommenszuwächse erzielten als die Armen.

Vergleichsdaten zur Einkommensverteilung in den OECD-Ländern5 liegen für heute vor, aber nicht für die Anfangszeit der langfristigen „Welle“ steigender Ungleichheit (im Vereinigten Königreich, in den Vereinigten Staaten, Neuseeland) Mitte der 1970er und Anfang der 1980er Jahre. Wären diese Daten damals verfügbar gewesen, hätten die Politikverantwortlichen und die betroffenen Menschen den Trend bemerken können und möglicherweise Gegenmaßnahmen ergriffen. Die Zunahme der wirtschaftlichen Ungleichheit wurde in den einzelnen Ländern zwar bereits früher festgestellt, dies wurde jedoch häufig als länderspezifisches Phänomen abgetan. Tatsächlich trat das einheitliche Muster der höheren wirtschaftlichen Ungleichheiten im Ländervergleich zunehmend deutlicher zutage und breitete sich immer stärker aus. Zum Teil war dies darauf zurückzuführen, dass die Maßnahmen, die Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten eingeführt wurden, auch in anderen Ländern ergriffen wurden. Die Einkommensungleichheit gab erst lange, nachdem der Schaden eingetreten war, Anlass zu Besorgnis.6

Heute liegen für die Länder, für die am dringendsten Daten über wirtschaftliche Ungleichheiten benötigt werden, häufig weniger Daten vor. Hierzu zählen z. B. aufstrebende Volkswirtschaften und Entwicklungsländer, die ein starkes, ungleich verteiltes Wirtschaftswachstum verzeichnen und keinen angemessenen Sozialschutz bieten. Wie Nora Lustig im Begleitband dokumentiert, liegen zwar verschiedene Daten zu den wirtschaftlichen Ungleichheiten für diese Länder vor, sie beruhen jedoch in vielen Fällen auf Schätzungen von Forschern. Selbst dort, wo hochwertige offizielle Mikrodaten vorhanden sind (z. B. in China), haben häufig weder Forscher noch internationale Organisationen Zugang dazu. Die meisten Daten zur wirtschaftlichen Ungleichheit in Entwicklungsländern und aufstrebenden Volkswirtschaften beruhen zudem auf Erhebungen zu den Verbraucherausgaben statt zu den Einkommen. Wenn Länder rasch wachsen und die Ersparnis der privaten Haushalte zunimmt (bei den Haushalten, denen das Wachstum zugutekommt), erhöht sich die Ungleichheit beim Verbrauch langsamer als bei den Einkommen. Mit zunehmender Verstädterung und fortschreitendem demografischen Wandel in diesen Ländern können die Zuwächse beim Haushaltseinkommen und -verbrauch pro Kopf – bedingt durch eine geringere Haushaltsgröße – außerdem größer sein als die Zuwächse beim Haushaltseinkommen und -verbrauch pro Verbrauchereinheit. In beiderlei Hinsicht unterschätzen die politisch Verantwortlichen in diesen Ländern aufgrund unzureichender Daten möglicherweise den Anstieg der wirtschaftlichen Ungleichheit.

Selbst in reichen Ländern stellen veraltete Kennzahlen der Einkommensungleichheit ein Problem dar, da solche Daten den jüngsten BIP-Daten in der Regel um Jahre hinterherhinken. Die Daten zur Einkommensungleichheit entfalten in politischen Debatten schlicht deshalb keine große Wirkung, weil sie zu dem Zeitpunkt, an dem sie verfügbar werden, vergangene Entwicklungen widerspiegeln und häufig das Resultat politischer Entscheidungen sind, die von früheren Regierungen getroffen wurden.

Unzureichende Kennzahlen in den nationalen amtlichen Statistiken zur wirtschaftlichen Ungleichheit können die politischen Erörterungen verzerren, wie sich anhand einiger Beispiele veranschaulichen lässt. Zur Messung der Ungleichheit ist das bereinigte verfügbare Einkommen (in welchem die einzelnen Dienstleistungen berücksichtigt sind, die der Staat den privaten Haushalten entgeltlos oder zu vergünstigten Preisen bietet) der breiter gefasste Indikator der Einkommensungleichheit, die meisten verfügbaren Kennzahlen zur Messung der Einkommensungleichheit beruhen in der Regel jedoch auf dem Bareinkommen. Die Messung von Sachleistungen stellt methodisch eine Herausforderung dar. Wenn sie aus der Einkommensmessgröße ausgeklammert werden, können sich die Politikverantwortlichen jedoch häufig auf die „Fiktion“ stützen, dass Steuersenkungen den wirtschaftlichen Wohlstand der Menschen verbessern, selbst wenn sie durch Kürzungen bei öffentlichen Dienstleistungen kompensiert werden, die die Menschen wertschätzen. Einige Entwicklungsländer haben wiederum erhebliche Ausgaben getätigt, um den Armen durch bessere Bildung und Gesundheitsversorgung zu helfen. Diese Maßnahmen verbessern zwar die Lebensqualität armer Kinder, schlagen sich jedoch nicht in einem höheren Bareinkommen der Empfänger nieder.7 Mit der Zeit dürften sie zu Einkommenszuwächsen führen und die Menschen aus der Armut herausführen. Diese Einkommenseffekte stellen sich jedoch erst mit der Zeit ein.8

Die Statistiken über die Verteilung der wirtschaftlichen Ressourcen der privaten Haushalte sind auch in anderer Hinsicht unzureichend.9 Erstens kommen die herkömmlichen Erhebungen zur Verteilung der Haushaltseinkommen zunehmend auf den Prüfstand, da sie die Entwicklung am oberen Ende der Verteilung nicht erfassen. Es werden immer häufiger andere Quellen (vorwiegend Steuerdaten) verwendet, vor allem nach den Arbeiten von Atkinson und Piketty (2007) und ihren Co-Autoren. Die Nutzung von Verwaltungsdatensätzen hat Fragen im Hinblick auf die Rolle der einzelnen Quellen, ihre Stärken und Schwächen sowie ihre mögliche Einbindung aufgeworfen. Steuerdaten stellen in der Regel die Situation von Personen am unteren Ende der Einkommensverteilung nicht angemessen dar. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass die Einkommen von Personen am oberen Ende der Verteilung zu niedrig ausgewiesen sind. Dies kann in manchen Fällen durch die Ausnutzung gesetzlicher Schlupflöcher bedingt sein, in anderen Fällen jedoch auch das Ergebnis fragwürdiger Praktiken sein, die an Steuerhinterziehung grenzen. In manchen Ländern schirmen die Reichen einen Großteil ihres Einkommens durch Unternehmen ab, sodass Einkünfte unberücksichtigt bleiben, die ihnen richtigerweise zugerechnet werden müssten. In den meisten Ländern werden Kapitalgewinne nur dann in den Steuererklärungen ausgewiesen (sofern dies überhaupt geschieht), wenn ein Vermögenswert veräußert wird.10 Wenn Kapitalgewinne steuerlich begünstigt werden (wie es häufig der Fall ist), finden reiche Privatpersonen leicht die Möglichkeit, Dividenden in Kapitalgewinne umzuwandeln. Am anderen Ende der Verteilung sind selbst Erhebungen, die besser als Verwaltungsdaten dazu geeignet sind, die Einkünfte ganz am unteren Ende zu erfassen, unzureichend (Atkinson, 2016). Obdachlose, Personen in Einrichtungen und Gefängnissen sowie Personen ohne festen Wohnsitz werden in den Erhebungen nicht berücksichtigt.11

Zweitens unterscheidet sich in der Regel der Umfang und manchmal auch die Veränderung der Einkommensdisparitäten erheblich von den Ungleichheiten bei den Konsumausgaben und dem Vermögen. Verwaltungsdaten können vorbehaltlich der oben erörterten Einschränkungen gute Einkommensmaße liefern. Um die Konsumausgaben zu messen, müssen wir uns jedoch auf Erhebungen stützen. Die Messung des Verbrauchs statt des Einkommens hat sowohl Vor- als auch Nachteile. Einerseits ist es auf individueller Ebene möglicherweise leichter, den Verbrauch (anhand von Haushaltsbüchern) zu beziffern als das erhaltene Einkommen: Das „Nettoeinkommen“ ist beispielsweise für einen kleinen Ladenbetreiber ohne Buchführung ein abstraktes Konzept, und die angegebenen Zahlen können unzutreffend sein. Andererseits unterliegen auch die auf individueller Ebene erhobenen Verbrauchsdaten Einschränkungen: Für die Erhebungsteilnehmer stellt ihre Erfassung eine Belastung dar, sodass die Ärmsten möglicherweise in den Ergebnissen nicht berücksichtigt sind. Ausgaben für langlebige Gebrauchsgüter bleiben möglicherweise außen vor bzw. werden als einmalige Verbrauchsausgaben erfasst, sofern sie (häufig in einem separaten Modul) angegeben werden, obwohl sie theoretisch über mehrere Jahre verteilt werden müssten.12 Außerdem werden diese Daten ebenfalls durch spezifische Messfehler beeinträchtigt, die durch Faktoren bedingt sind wie die Länge des Bezugszeitraums, die Zahl der im Haushaltsbuch notierten Verbrauchsgüter und die Frage, ob die Teilnehmer ihren Verbrauch selbst aufzeichnen oder interviewt werden.13 Eine besondere Schwierigkeit stellt die Tatsache dar, dass wir für bestimmte Länder möglicherweise lediglich Daten zur Ungleichheit bei den Einkommen und für andere lediglich Daten zur Ungleichheit beim Verbrauch haben. Länderübergreifende Vergleiche werden hierdurch schwieriger.

Drittens ist die Behandlung von durch den Staat bereitgestellten Waren und Dienstleistungen besonders problematisch, da diese Güter einen Großteil des „tatsächlichen Verbrauchs“ einkommensschwacher Personen darstellen können. Bleiben diese Waren und Dienstleistungen unberücksichtigt, werden Umfang und Veränderungen bei der wirtschaftlichen Ungleichheit und dem durchschnittlichen Lebensstandard möglicherweise verzerrt dargestellt. Das Problem (auf das bereits im Kommissionsbericht von 2009 aufmerksam gemacht wurde) besteht darin, dass es sich hierbei nicht um Markttransaktionen handelt und es daher schwierig ist, ihren Wert zu ermitteln. In manchen Fällen lässt sich sogar nur schwer feststellen, wer die Empfänger sind. Die medizinische Versorgung von Personen ohne Krankenversicherung ist besonders schwer zu bewerten. Aber selbst für krankenversicherte Personen ist die Bewertung von Transaktionen zu Marktpreisen unbefriedigend, da die Marktpreise im Allgemeinen verzerrt sind. In vielen Ländern, wie z. B. den Vereinigten Staaten, sind die Kosten für Gesundheitsdienstleistungen deutlich rascher gestiegen als die allgemeinen Lebenshaltungskosten. In der Folge entwickeln sich die tatsächlichen Gesundheitsleistungen möglicherweise selbst dann effektiv rückläufig, wenn die nominalen Gesundheitsausgaben rascher als der VPI (der Gesamtindikator der Lebenshaltungskosten) steigen, sofern ein gesundheitsversorgungsspezifischer Preisindex verwendet würde. Dies ist von Bedeutung: Burkhauser, Larrimore und Simon (2012) stellten anhand nominaler Einkommensmaße fest, dass die Ungleichheit beim Lebensstandard in den Vereinigten Staaten weniger stark stieg als behauptet, wenn die hohen Steigerungen bei den (nominalen) Gesundheitsausgaben berücksichtigt werden. Wird jedoch der höhere Anstieg der Preise für Gesundheitsleistungen berücksichtigt, trifft das Gegenteil zu.

Viertens liegen uns nach wie vor keine angemessenen Daten zur Verteilung des Vermögens der privaten Haushalte vor. Dieser Mangel ist in einer Zeit, in der viele reiche Länder die Steuern auf Vermögensbestände, Kapitalerträge, Veräußerungsgewinne und Erbschaften gesenkt haben (OECD, 2018b), besonders kritisch zu sehen. Die regressiven Folgen dieser Maßnahmen erhalten in den politischen Debatten nicht den angemessenen Stellenwert. Zum Teil ist dies dadurch begründet, dass keine hinreichenden Daten zur Vermögensverteilung vorliegen.14 Zusätzlich zu den zuvor beschriebenen Problemen zur Messung der Einkommen bestehen im Hinblick auf Daten zum Haushaltsvermögen zwei weitere entscheidende Einschränkungen: Erstens werden in manchen Ländern erhebliche Vermögensbestände im Ausland gehalten, u. a. in Steueroasen. Zucman (2015) hat zwar die hohe Größenordnung dieser versteckten Vermögen gezeigt, diese in den Daten zur Vermögensverteilung in den einzelnen Ländern zu berücksichtigen, stellt jedoch eine enorme Herausforderung dar. Zweitens halten die Vermögenden in manchen Ländern möglicherweise erhebliche Teile ihres Vermögens in Treuhandvermögen und Stiftungen, deren wirtschaftliche Eigentümer oft nicht transparent sind. Da der so gehaltene Vermögensanteil von einem Land zum nächsten stark variieren kann, ist es schwierig, Ländervergleiche zur Vermögensungleichheit vorzunehmen. Außerdem kann dieser Vermögensanteil im Lauf der Zeit deutlich schwanken, vor allem wenn die Steuergesetze und andere Rechtsvorschriften geändert werden.15

Fünftens und letztens werden Mikrostatistiken zu Einkommen, Verbrauch und Vermögen der privaten Haushalte (selbst wenn sie verfügbar sind) selten so zusammen erhoben, dass Informationen zu jeder Komponente für jeden Haushalt verfügbar sind.16 Eine stärkere Korrelation zwischen den verschiedenen Arten wirtschaftlicher Ressourcen wäre gleichbedeutend mit einer größeren wirtschaftlichen Ungleichheit, selbst wenn die (marginale) Verteilung jeder einzelnen Art unverändert bleibt. Wie bereits erwähnt, ist der Privathaushalt bzw. das Individuum die natürliche Analyseeinheit, und Personen am unteren Ende der Verteilung befinden sich in der Regel in jeder Hinsicht in einer Mangelsituation. Die Befunde zur gemeinsamen Verteilung von Einkommen, Verbrauch und Vermögen für die Vereinigten Staaten lassen darauf schließen, dass ihre Korrelation im Lauf der Zeit stärker geworden ist. Dies bedeutet, dass die „echte“ wirtschaftliche Ungleichheit rascher gestiegen ist als bei separater Betrachtung der unterschiedlichen wirtschaftlichen Ressourcen (Fisher et al., 2016). Bei den meisten anderen Ländern wissen wir nicht, wie groß die Unterschätzung ist. Die jüngsten OECD-Arbeiten zur gemeinsamen Verteilung von Einkommen und Vermögen zeigen beispielsweise, dass über 40 % der Menschen in den OECD-Ländern nicht über die nötigen liquiden finanziellen Vermögenswerte verfügen, um zu vermeiden, dass sie in Armut hinabgleiten, wenn sie auf drei Monatseinkommen verzichten müssten. Hieraus lässt sich folgern, dass die Anfälligkeit gegenüber unvorhergesehenen wirtschaftlichen Schocks groß ist (Balestra und Tonkin, 2018).

Abgesehen von diesen Problemen muss auch eine ganze Reihe wichtiger technischer Fragen geklärt werden, um die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen den Ländern und im Zeitverlauf zu vergleichen. So gibt es beispielsweise viele Fragen, die sich auf die Datenvergleichbarkeit auswirken, was wiederum die Möglichkeiten beeinträchtigt, länderübergreifende Vergleiche vorzunehmen. Außerdem werden in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften und in den Entwicklungsländern unterschiedliche Datensätze erhoben, und die Angaben der Befragten beziehen sich auf unterschiedliche Einkommens- oder Verbrauchsdefinitionen, die nicht immer angemessen sind. In den fortgeschrittenen Volkswirtschaften wird die wirtschaftliche Ungleichheit in der Regel auf der Grundlage des Äquivalenzeinkommens gemessen (bei dem Anpassungen in Bezug auf die Familiengröße und manchmal auch das Alter der einzelnen Haushaltsmitglieder vorgenommen werden), wohingegen in anderen Ländern häufiger der Pro-Kopf-Verbrauch oder das Pro-Kopf-Einkommen verwendet wird. Auch die großen Unterschiede bei der Haushaltsgröße im Ländervergleich und im Zeitverlauf werfen Fragen bezüglich der Vergleiche der Einkommensungleichheit zwischen den Ländern auf. In manchen Entwicklungsländern kann selbst der Begriff des Haushalts (Menschen, die unter einem Dach leben und ihre Mahlzeiten gemeinsam einnehmen) schwer zu definieren und zu messen sein.

Bei der Untersuchung von Ungleichheiten sollte zwar grundsätzlich das verfügbare Einkommen als Einkommensvariable im Mittelpunkt der Betrachtung stehen (also das, was der Einzelne nach Entrichtung der direkten Steuern und Empfang etwaiger laufender Transferleistungen ausgeben kann) – das genaue Einkommenskonzept, auf das sich die Befragten in den meisten lateinamerikanischen Ländern stützen (wo die Erhebungen in der Regel das Einkommen statt den Verbrauch messen), ist jedoch häufig unklar. Im internationalen Standardwerk auf diesem Gebiet (UNECE, 2011) wird zudem zwar die Auffassung vertreten, dass sowohl beim Einkommen als auch beim Verbrauch Waren berücksichtigt werden sollten, die innerhalb des Haushalts für den Eigenverbrauch produziert werden (innerhalb des privaten Haushalts erbrachte Dienstleistungen wie Kinderbetreuung werden aufgrund der Schwierigkeit, diese zu messen, ausgeklammert). Das Gleiche gilt für die kalkulatorischen Mieten für selbstgenutztes Wohneigentum (die Miete, die gezahlt werden müsste, wenn der Wohnraum gemietet würde). In der Praxis ist dies im Allgemeinen jedoch selbst in den Industrieländern nicht der Fall.17

Die Auswirkungen von Verbrauchsteuern und Subventionen auf die wirtschaftlichen Ressourcen der privaten Haushalte werden in der Regel ebenfalls vernachlässigt. Wie im Kapitel von Nora Lustig im Begleitband ausgeführt, wird zwar grundsätzlich anerkannt, dass die Konsummöglichkeiten der privaten Haushalte durch Verbrauchsteuern und Produktionssubventionen verringert bzw. verbessert werden, weil diese sich in den Preisen niederschlagen, die die privaten Haushalte für die von ihnen erworbenen Waren und Dienstleistungen bezahlen. Dieser Effekt wird in den Konventionen, auf denen die Untersuchung der Disparitäten beim wirtschaftlichen Wohlstand der privaten Haushalte und die Analyse der Umverteilungseffekte der Steuereinnahmen und Staatsausgaben im Allgemeinen beruhen, jedoch nicht berücksichtigt.18 In Studien zur Steuerinzidenz, in denen diese Steuern betrachtet werden, werden beträchtliche Umverteilungseffekte beschrieben (Lustig, 2018).

Außerdem unterscheiden sich sekundäre Datenbanken im Hinblick darauf, ob (und welche) Anpassungen an den zugrunde liegenden Mikrodaten vorgenommen werden, um Untererfassung zu korrigieren, Ausreißer zu beseitigen oder fehlenden Antworten bei bestimmten Items Rechnung zu tragen. Hierdurch ergeben sich Unstimmigkeiten zwischen den Datensätzen. Dementsprechend können unterschiedliche Datensätze zu unterschiedlichen Schätzungen bezüglich des Niveaus der Ungleichheit führen, selbst wenn sie auf derselben Datenquelle beruhen. In manchen Fällen können diese Probleme so erheblich sein, dass das Ergebnis der Prüfung, ob das Niveau der Ungleichheit zwischen den Ländern konvergiert, schlicht davon abhängt, welcher sekundäre Datensatz verwendet wird.

Die Präsentation (und Zusammenfassung) von Daten zu den Einkommensdisparitäten wirft ebenfalls eine Reihe von Problemen auf. Der übliche Gesamtindikator ist der Gini-Koeffizient, ein Index zwischen null (im Fall einer vollkommenen Gleichverteilung, d. h. jeder erhält dasselbe Einkommen) und 1 (im Fall der vollkommenen Ungleichverteilung, d. h. eine einzige Person erhält das gesamte Einkommen). Dieser Index wird anhand einer (Lorenz-)Kurve berechnet (Abbildung 3.2), die die kumulierten Bevölkerungsanteile den kumulierten Einkommensanteilen gegenüberstellt (z. B. können auf die untersten 10 % der Bevölkerung 5 % des Gesamteinkommens entfallen, auf die untersten 20 % der Bevölkerung 12 % des Gesamteinkommens usw.). Der Gini-Koeffizient ist der (doppelte) Bereich zwischen der Lorenz-Kurve und der Diagonalen und entspricht der durchschnittlichen Einkommensdifferenz zwischen allen Personenpaaren in der Stichprobe.

Nur wenn die Kurve für ein Jahr an allen Punkten der Verteilung unter derjenigen für ein anderes Jahr liegt, lässt sich sagen, dass ein höherer Gini-Koeffizient einen eindeutigen Anstieg der Ungleichheit bedeutet. Alle Gesellschaften, die eine Aversion gegen Ungleichheit haben, würden dementsprechend die eine Kurve der anderen vorziehen. Wenn sich diese Kurven „schneiden“, hängt die Beurteilung der Veränderungen der Einkommensdisparitäten vom „Gewicht“ ab, dass den verschiedenen Teilen der Kurve beigemessen wird. So könnte für manche Gesellschaften beispielsweise die Erosion der Mittelschicht ein größerer Grund zur Sorge sein, für andere der große Anteil am „volkswirtschaftlichen Kuchen“ des jeweiligen Landes, den die obersten 1 % für sich beanspruchen, für wieder andere die Tiefe der Armut. Selbst wenn sich diese Kurven nicht überschneiden, ist es für politische Zwecke wichtig zu wissen, was in jedem Teil der Einkommensverteilung vor sich geht – bei denjenigen am unteren Ende der Verteilung (die in Armut leben), denjenigen in der Mitte (der Mittelschicht) und denjenigen am oberen Ende (den obersten 1 %). Ungleichheitsmaße, die die Entwicklungen an verschiedenen Punkten der Verteilung erfassen, sollten regelmäßig zusammen mit den Indikatoren, die die Gesamtverteilung beschreiben, angegeben werden.

Sir Tony Atkinson führte 1970 einen Wohlstandsindikator ein, der den auf Einkommensungleichheit zurückzuführenden Verlust an gesellschaftlichem Wohlergehen beurteilt, indem der Grad an Ungleichheitsaversion in der jeweiligen Gesellschaft berücksichtigt wird (Atkinson, 1970). Bei diesem Indikator wird gefragt, auf wieviel Einkommen die Menschen verzichten würden, wenn damit alle Ungleichheit beseitigt werden könnte. Ausgehend von vernünftigen Annahmen bezüglich der „Ungleichheitsaversion“ ergaben sich relativ hohe Wohlstandseinbußen (bis zu einem Drittel oder mehr des Durchschnittseinkommens der Befragten). Aber selbst dieser Indikator könnte den „Preis der Ungleichheit“ unterschätzen, da er sich darauf konzentriert, die gesamte Ungleichheit zu beseitigen. Die maßgebliche Frage lautet in den meisten Fällen, wieviel ein Land zu zahlen bereit ist, um einen Teil der Ungleichheit zu eliminieren. Wie in anderen Bereichen der Volkswirtschaftslehre ist also ein Indikator für den Grenznutzen erforderlich. Stiglitz (2009) entwickelte einen solchen Indikator und zeigte, dass er in der Regel erheblich größer ist als Atkinsons Indikator. Im Vergleich zu letzterem wird er bisher jedoch weniger häufig angewendet.

Auf vielen Gebieten der Rechtsetzung, z. B. im Umwelt- und Sicherheitsbereich, ist es üblich, eine Kosten-Nutzen-Analyse vorzuschreiben. Damit sind die Politikverantwortlichen gezwungen, sowohl die Vor- als auch die Nachteile von Rechtsvorschriften zu prüfen. Ebenso sollte für jede große Politikmaßnahme auch regelmäßig eine Prüfung ihrer Umverteilungswirkung vorgeschrieben werden. Der IWF hat hiermit bereits begonnen.19 Es ist denkbar, dass es die umfangreichen Kapitalertragsteuersenkungen in den Vereinigten Staaten unter Präsident Clinton, die so stark zum Anstieg der Ungleichheit beigetragen haben, nicht gegeben hätte, wenn solche Verfahren systematisch durchgeführt worden wären. Und falls es damals doch zu einer Steuersenkung gekommen wäre, wäre sie möglicherweise anders gestaltet worden.20 Es ist außerdem möglich, dass derartige Prüfungen zu einer Abkehr von der Austeritätspolitik geführt hätten, die einigen europäischen Ländern nach der Finanzkrise auferlegt wurde. Es wäre des Weiteren ratsam, die Umverteilungseffekte von Änderungen der Arbeitsmarktregulierung zu prüfen. Beispielsweise könnte eine Änderung auf diesem Gebiet ohne angemessenen Sozialschutz und aktive Arbeitsmarktmaßnahmen negative Auswirkungen auf die Ungleichheit haben, die nicht durch positive Effizienzsteigerungen aufgewogen werden.

Das System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen entstand aus der Notwendigkeit heraus, die nötigen Daten zu beschaffen, um die Wirtschaft nach der Großen Depression zu steuern. Dem liegt die Lehre Keynes’ zugrunde, dass die Staaten die Volkswirtschaft über die Geld- und die Fiskalpolitik steuern können. Sowohl die Auswirkungen der Einkommensverteilung auf die Makroökonomie als auch die Auswirkungen makroökonomischer Politikmaßnahmen auf die Verteilung wurden dabei häufig nicht gut erkannt und noch seltener bei der Erörterung von Maßnahmen berücksichtigt, vor allem in den vergangenen vierzig Jahren.21

Dies hat sich inzwischen geändert. Seit der Krise ist eine Reihe von (in erster Linie durch den IWF und die OECD durchgeführten) Forschungsarbeiten auf der Basis von länderübergreifenden Datensätzen, die Daten zum BIP-Wachstum und zur Einkommensungleichheit kombinieren, zu dem Schluss gekommen, dass die Zunahme der Einkommensdisparitäten das BIP-Wachstum verringert haben könnte (Ostry, Berg und Tsangarides, 2014; Cingano, 2014). Für die Zeit nach der Krise von 2008 ist ein derartiger negativer Zusammenhang durchaus plausibel; damals war die fehlende Nachfrage aufgrund der unterschiedlichen Ausgabenneigung auf den verschiedenen Stufen der Verteilung eine der größten Wachstumsbremsen.22 Allerdings sind Forschungsarbeiten, die Mikro- und Makrodaten kombinieren, die auf der Grundlage unterschiedlicher Konzepte gemessen werden und sich im selben Zeitraum sehr unterschiedlich entwickeln, natürlich mit beträchtlichen Datenproblemen behaftet. Noch größer sind die Schwierigkeiten, wenn es darum geht, die Kausalitätsrichtung zwischen beiden und die Rolle anderer Faktoren bei der Erklärung des Zusammenhangs zwischen ihnen zu ermitteln.

Gleichzeitig hatten die unorthodoxen geldpolitischen Maßnahmen (quantitative Lockerung), mit denen die Zentralbanken die Wirtschaft nach der Krise stützten, erhebliche (negative) Umverteilungseffekte. Die Einkünfte von Rentnern, die über sichere Anleihen mit kurzer und mittlerer Laufzeit verfügten, sanken infolge der niedrigen Zinssätze. Vermögende Personen, die einen überverhältnismäßig hohen Anteil an Dividendenwerten besaßen, profitierten hingegen von einem steilen Anstieg ihrer Werte, da die Märkte positiv auf die quantitative Lockerung reagierten. Dieser Umverteilungseffekt, der die positiven Effekte des Beschäftigungsanstiegs – eines der Ziele dieser geldpolitischen Maßnahmen – weitgehend aufwog oder sogar überkompensierte, dürfte dazu beigetragen haben, dass diese Maßnahmen das Wachstum nur begrenzt stützten und, dass die Ausrichtung der staatlichen Politik als ungerecht empfunden wurde, was für ein wachsendes Misstrauen der Menschen gegenüber dem Staat sorgte.

Es liegt daher auf der Hand, dass makroökonomische Daten und Verteilungsdaten integriert werden müssen. In der Vergangenheit wurden Makro- und Mikrostatistiken zum wirtschaftlichen Wohlstand der privaten Haushalte parallel erhoben, was in manchen Fällen zu sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen darüber geführt hat, wie sich die Lebensstandards der privaten Haushalte im Lauf der Zeit im Durchschnitt verändert haben. Es ist aber natürlich wichtig, auf Makro- und auf Mikroebene konsistente Daten zu erhalten. Die Disparitäten zwischen den Zahlen sollten daher die Aufmerksamkeit auf die Unzulänglichkeiten der einzelnen Datenquellen lenken. Die Forschung ist sich der großen Diskrepanzen seit geraumer Zeit bewusst (Altimir, 1987; Deaton, 2005; Anand, Segal und Stiglitz, 2010) und hat die Gründe dafür untersucht. Abgestimmte Maßnahmen auf internationaler Ebene, um die Daten zu den wirtschaftlichen Ressourcen der privaten Haushalte auf Makro- und auf Mikroebene in einen kohärenten Rahmen einzubinden, wurden jedoch erst 2011 ergriffen, als die OECD und Eurostat eine Machbarkeitsstudie zur Erfassung von Messgrößen zur Verteilung der Einkommen, des Verbrauchs und der Ersparnis der privaten Haushalte im Rahmen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen auf Basis von Mikrodaten durchführten (vgl. Kasten 5.1 des Begleitbands). Wenn wir darauf hinarbeiten, konsistente Daten zu erhalten, bekommen wir möglicherweise ein sehr viel präziseres Bild der Entwicklungen. Die Forschungsergebnisse von Alvaredo et al. im Begleitband heben die Fortschritte hervor, die durch harmonisierte Definitionen und Methoden bei der Harmonisierung beider Datensätze erzielt wurden. Auch die Fortschritte bei der Kombination der Daten aus den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, Umfragen und Steuerdaten mit anderen Datenquellen wie den von der Presse erstellten „Reichenlisten“ werden dort dargestellt.

Zwar stützen sich die meisten Studien zur Zunahme der Einkommensdisparitäten auf Gesamtindikatoren auf Basis von Erhebungen – bei der Untersuchung des Tempos des Einkommenswachstums von Personen an unterschiedlichen Punkten der Verteilung muss jedoch den großen (und zunehmenden) Unterschieden Rechnung getragen werden, die bei der Messung des Einkommenswachstums in den Datenquellen auf Mikro- und auf Makroebene ausgewiesen werden. Beim Versuch, die Daten aus beiden Quellen zusammenzuführen, gilt es eine ganze Reihe kontroverser methodischer Fragen zu klären (wie im Kapitel von Alvaredo et al. beschrieben) und diskussionswürdige Entscheidungen zu treffen. Sind diese Entscheidungen und Annahmen jedoch erst einmal getroffen, lassen die so gewonnenen Schätzwerte bestimmte Muster erkennen, die sich zwischen den verschiedenen Weltregionen deutlich unterscheiden. So zeigen beispielsweise die Schätzungen aus Alvaredo et al., bei denen Steuerdaten mit Erhebungs- und Makrodaten kombiniert wurden, dass das Nationaleinkommen je Erwachsenen zwischen 1978 und 2015 in China um über 800 %, in den Vereinigten Staaten um rd. 60 % und in Frankreich um rd. 40 % gestiegen ist. In China legte auch das Durchschnittseinkommen der unteren 50 % mit einem Zuwachs von rd. 400 % kräftig zu. Da diese Zunahme aber dennoch unter dem Durchschnitt lag, erhöhte sich die Ungleichheit. Die unteren 50 % der Bevölkerung in den Vereinigten Staaten mussten hingegen einen leichten Einkommensrückgang (-1 %) hinnehmen. In Frankreich stiegen die Einkommen der Erwachsenen in der unteren Hälfte der Verteilung im selben Tempo wie die Durchschnittseinkommen, sodass die Einkommensungleichheit im Großen und Ganzen stabil blieb – lediglich in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre kam es hier zu einem leichten Anstieg.

Die Statistiken zu den Einkommen der privaten Haushalte auf Makro- und auf Mikroebene müssen so integriert werden, dass die Kohärenz mit den makroökonomischen Gesamtgrößen des BIP und seiner Komponenten gewährleistet ist, um eindeutigere Schlüsse bezüglich der Zusammenhänge zwischen der makroökonomischen Tätigkeit, den Politikmaßnahmen und der Verteilung ziehen zu können. Es ist wichtig, diese Zusammenhänge zu verstehen – nicht nur, weil die makroökonomische Politik unbeabsichtigte Verteilungseffekte haben kann, sondern auch weil wirtschaftliche Ungleichheiten für die Übertragung der Geld- und Fiskalpolitik sowie die Beurteilung der Ausfallrisiken im Zusammenhang mit Vermögenspreisschwankungen von Bedeutung sind. Makroökonomen können die Verteilungseffekte heute schlicht nicht mehr so leicht ignorieren wie früher.

Vertikale Ungleichheiten wie die vorstehend erörterten beschreiben den Grad der Ungleichheit etwa zwischen Arm und Reich. Horizontale Ungleichheiten dagegen beschreiben die Disparitäten zwischen im Großen und Ganzen ähnlich situierten Personen oder Gruppen, beispielsweise zwischen Mann und Frau, Personen unterschiedlicher ethnischer Herkunft oder innerhalb der Familie. Horizontale Ungleichheiten hängen häufig mit Diskriminierung zusammen, deren moralische, soziale, politische und wirtschaftliche Folgen bereits ausführlich erörtert wurden. Horizontale Ungleichheiten (also solche zwischen verschiedenen Gruppen) können zu politischer Instabilität führen, wenn es den Gruppen auf der Verliererseite gelingt, auf Basis einer gemeinsamen Identität Koalitionen aufzubauen (Doyle und Stiglitz, 2014). Es ist möglich und sogar wahrscheinlich, dass Konflikte auf Basis ethnischer oder religiöser Gruppen hätten vermieden oder zumindest abgeschwächt werden können, wenn horizontalen Ungleichheiten größere Aufmerksamkeit geschenkt worden wäre. Gleichzeitig können Daten, aus denen die Größenordnung horizontaler Ungleichheiten hervorgeht, bestehende Überzeugungen im Hinblick auf Diskriminierung aber auch bekräftigen und Spannungen dadurch verstärken.

Bestimmte Arten horizontaler Ungleichheiten sind schwerer zu erfassen als andere. In den klassischen Einwanderungsländern werden seit Langem Daten zur ethnischen Herkunft erhoben, wohingegen die Erhebung solcher Daten in vielen europäischen Ländern (bei denen die Erfahrungen von Genozid und Diskriminierung während des Zweiten Weltkriegs Spuren hinterlassen haben bzw. die erst in jüngerer Zeit eine starke Zuwanderung verzeichnen) entweder explizit verboten oder nach wie vor unterentwickelt ist. Es spricht einiges dafür, dass die betreffenden Länder durch die Nichterhebung solcher Daten die Augen vor den schlimmsten Ausprägungen der Diskriminierung verschließen.

Für einen Teil der Kriterien, anhand derer horizontale Ungleichheiten in den einzelnen Ländern gemessen werden, gibt es darüber hinaus keine etablierten statistischen Konventionen und Definitionen. Ein Beispiel hierfür ist der Invaliditätsstatus, für den es trotz jahrzehntelanger Diskussionen noch keine allgemein anerkannte Definition gibt, die in allen amtlichen Erhebungen zugrunde gelegt wird. In anderen Fällen gibt es schlicht deshalb noch keine Kriterien für die statistische Erfassung, weil derartige horizontale Ungleichheiten (beispielsweise diejenigen im Zusammenhang mit der sexuellen Orientierung) erst seit kurzem öffentlich diskutiert werden. Es ist wichtig, dass entsprechende Definitionen festgelegt und in den Volkszählungen umgesetzt werden.

Über andere Arten horizontaler Ungleichheiten sind mehr Erkenntnisse vorhanden, sie werfen jedoch in Bezug auf die Messung spezifische Fragen auf. Insbesondere erfahren wir durch die Fokussierung auf die wirtschaftlichen Ressourcen der privaten Haushalte nicht, wie diese Mittel innerhalb der Familie oder des privaten Haushalts verteilt sind und ob es dabei einen systematischen Gender-Bias gibt. Wir wissen, dass die Ressourcen innerhalb von Familien ungleich verteilt sind, vor allem in armen Gesellschaften, in denen Mädchen mit geringerer Wahrscheinlichkeit als ihre männlichen Geschwister eine Schule besuchen und sogar weniger häufig zu essen bekommen bzw. medizinisch versorgt werden. Wir wissen ferner, dass die Verteilung von Sozialleistungen innerhalb der Familie in weiter fortgeschrittenen Ländern davon abhängt, welches Familienmitglied diese Leistungen erhält (Woolley, 2004; Browning, Chiappori und Weiss, 2014).

Deere, Kanbur und Stewart führen in Kapitel 4 des Begleitbands aus, dass die Ungleichheit unterschätzt wird, wenn die Diskrepanzen innerhalb der privaten Haushalte unberücksichtigt bleiben (vgl. auch Deaton, 1997). Wie bereits erwähnt ist es jedoch nicht leicht, die nötigen Daten zu erheben, um die Verteilung innerhalb der privaten Haushalte zu beurteilen. Indirekte Indikatoren wie das eheliche Güterrecht und Informationen über die Gewichtung der verschiedenen Haushaltsmitglieder können in manchen Situationen Informationen über die Ungleichheiten innerhalb der privaten Haushalte liefern. Um die Disparitäten innerhalb der einzelnen Haushalte zu messen, muss in den meisten Fällen jedoch zwischen den Einkommensströmen unterschieden werden, die den einzelnen Haushaltsmitgliedern gezahlt werden (z. B. Verdienst), und denjenigen, die alle gemeinsam erhalten (z. B. Erträge aus Vermögenswerten, die sich im Familienbesitz befinden), oder ermittelt werden, welches Familienmitglied die wichtigsten finanziellen Entscheidungen trifft bzw. welcher Anteil des individuellen Einkommens nicht mit den anderen Familienmitgliedern geteilt wird. Durch die Erhebung von Daten zu den wirtschaftlichen Ressourcen sowohl auf individueller als auch auf Haushaltsebene in ein und derselben Erhebung könnten bessere (wenn auch nicht perfekte) Indikatoren für die geschlechtsspezifischen Ungleichheiten entwickelt werden. Dies würde eine zielgenauere Ausrichtung von Politikmaßnahmen ermöglichen – z. B. durch die Entscheidung, ob Sozialleistungen für ein Paar an den Mann oder die Frau ausgezahlt werden –, um solche Disparitäten zu verringern.

Ungleichheiten in der Verteilung der wirtschaftlichen Ressourcen der privaten Haushalte und anderer individueller Merkmale sind nicht die einzige Form von Ungleichheiten, die für Menschen und Gemeinwesen relevant sind. Viele Beobachter kommen in der Tat zu dem Schluss, dass es nicht die Ungleichheiten bei den Ergebnissen sind, die wirklich zählen, sondern vielmehr die Ungleichheiten bei den Chancen. In einer gerechten Gesellschaft sollte jeder ungeachtet seiner Herkunft die gleichen Chancen haben, gute Ergebnisse zu erzielen. Prominente Politiker behaupten beispielsweise, dass in den Vereinigten Staaten die Einkommensungleichheit zwar ausgeprägter ist als in anderen Ländern, die Chancengleichheit dafür aber größer ist. Das ist eine empirische Behauptung, die untermauert werden muss. Um beurteilen zu können, ob diese Aussage zutrifft, bedarf es eines Rahmenkonzepts – einer Definition der Chancengleichheit – sowie Indikatoren und Daten, anhand derer diese Behauptung überprüft werden kann.

Chancenungleichheit lässt sich definieren als die Unterschiede bei den Auswahlmöglichkeiten, die Einzelpersonen und/oder Familien in unterschiedlichen Situationen zur Verfügung stehen. Aus diesem Grund wird in zahlreichen ökonomischen Studien versucht, zwischen den Lebensumständen, in die eine Person hineingeboren wurde, und ihren Anstrengungen zu unterscheiden. In diesem Ansatz bedeutet Chancengleichheit, dass Personen, die die gleichen Anstrengungen unternehmen, unabhängig von ihren Lebensumständen, dieselben Ergebnisse erzielen (bzw. dieselbe Wahrscheinlichkeitsverteilung der Ergebnisse aufweisen) sollten.23 Dies würde insbesondere bedeuten, dass Menschen, die in arme Familien hineingeboren werden und ein bestimmtes Maß an Anstrengung aufbringen, ebenso große Chancen auf Erfolg im Leben haben wie Kinder reicher Eltern, die die gleiche Anstrengung aufbringen.

Wie Bourguignon in Kapitel 5 des Begleitbands zeigt, werden Anstrengungen generell leider nicht gemessen. In der Praxis bedeutet das, dass Unterschiede bei den Ergebnissen, die sich nicht durch beobachtbare Umstände erklären lassen, den unternommenen Anstrengungen zugeschrieben werden. Wenn diese Umstände nur einen Bruchteil der Ergebnisse erklären, wird davon ausgegangen, dass die Chancengleichheit hoch ist. Wenn Unterschiede bei den Lebensumständen die Wahrscheinlichkeitsverteilung von Ergebnissen für ein gegebenes Anstrengungsniveau deutlich nach oben oder nach unten verlagern, ist es also nicht möglich auseinanderzuhalten, was auf den einen und was auf den anderen Faktor zurückzuführen ist. Darüber hinaus kann die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft auch durch die Umstände beeinflusst werden, in die wir hineingeboren werden. Folglich ist die konzeptuelle Unterscheidung zwischen unverschuldeten Umständen und eigenverantwortlichen Anstrengungen bestenfalls unscharf.

Chancengleichheit ist für die Menschen wichtig, weil Ungleichheit unfair, ineffizient oder beides ist. Die meisten Menschen vertreten die Auffassung, dass Kinder nicht für die Lebensumstände verantwortlich sind, in die sie hineingeboren werden. Viele empfänden es als zutiefst ungerecht, wenn die Lebenschancen eines Kindes durch diese Umstände bestimmt würden. Chancenungleichheit ist in wirtschaftlicher Hinsicht ineffizient, da sie Negativanreize entstehen lässt, die Moral untergräbt und mit einer Fehlallokation von Ressourcen verbunden ist. Menschen, die den Eindruck haben, dass das, was sie in ihrem Leben erreichen, weitgehend durch die Lebensumstände vorbestimmt ist, in die sie hineingeboren sind, haben wenig Anreize, Anstrengungen zu unternehmen. Das Gefühl, in einem Wirtschaftssystem zu leben, das verzerrt ist, und in dem jene, die in die Oberschicht hineingeboren werden, die Gewinner sind, drückt ebenfalls auf die Moral. (Dieser Zusammenhang zwischen Fairnesswahrnehmung und Effizienzlohn wird auch als fairness-efficiency wage effect bezeichnet.) Wenn ein Teil der Chancenungleichheit mit einem mangelnden Zugang zu Bildung und anderen Ressourcen assoziiert ist, bedeutet dies, dass Menschen, die am unteren Ende der Skala angesiedelt sind, zu wenig in diese Ressourcen investieren. All diese Faktoren lassen den Schluss zu, dass Chancenungleichheit zu einer weniger effizienten und einer sozial ungleicheren Gesellschaft führt.

Chancenungleichheiten haben in der Tat eine Verfestigung der Ergebnisungleichheiten zur Folge. Der Großteil der Einkommens- und Vermögensungleichheiten der heutigen Generation (die die Chancen ihrer Kinder maßgeblich bestimmen) überträgt sich auf die nächste Generation. Die Ungleichheiten einer Generation werden also zu Chancenungleichheiten der nachfolgenden Generation. Somit werden größere Ungleichheiten innerhalb einer Generation auf die nächste übertragen. Der Prozess ist kumulativ. Alan Krueger formuliert es wie folgt: „Die Zunahme der Ungleichheit in den Vereinigten Staaten in den vergangenen drei Jahrzehnten hat den Punkt erreicht, an dem die Einkommensungleichheit eine ungesunde Chancenungleichheit zur Folge hat und das Wirtschaftswachstum gefährdet. Die Wiederherstellung eines höheren Maßes an Fairness am US-Arbeitsmarkt wäre für die Unternehmen, die Wirtschaft und das Land von Vorteil“.24

Corak (2013) dokumentierte den systematischen Zusammenhang zwischen Chancenungleichheiten und Ergebnisungleichheiten.25 Er zeigte auf, dass die wirtschaftliche Mobilität in Gesellschaften mit größerer Ergebnisungleichheit durchweg geringer war. Dies kommt beispielsweise in Daten zum Ausdruck, die vermuten lassen, dass Kinder reicher US-Bürger, die in der Schule schlecht abschneiden, letzten Endes höhere Einkommen haben als Kinder armer US-Bürger, die gute schulische Leistungen aufweisen (Bartik und Hershbein, 2018). Nichts bestimmt die Ergebnisse so stark wie die Umstände, in die eine Person hineingeboren wird – weder die Anstrengungen, noch die Intelligenz.26

Eine der wichtigen Schlussfolgerungen dieser Analyse lautet, dass die Abgrenzung zwischen Chancengleichheit und Ergebnisgleichheit begrifflich zwar klar, in der Praxis jedoch unscharf ist. Wie die Erörterung weiter unten hervorhebt, sind glücklicherweise bereits Statistiken vorhanden, die Orientierungshilfen zu Politikmaßnahmen bieten, die die Chancengleichheit erhöhen könnten.

Die Kommission hob 2009 die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Messung der Einkommens- und Vermögensungleichheiten hervor. Dabei sind die Schwierigkeiten bei der Messung der Chancenungleichheit deutlich größer. Standardgemäß wird einfach die Korrelation zwischen dem Erwerbseinkommen einer Person und dem seiner Eltern (in der Regel des Vaters) im gleichen Alter gemessen (Corak, 2013). Die Chancengleichheit wird dann anhand der Größe der Korrelation zwischen den beiden Einkommen bestimmt. Besteht durchschnittlich keine Korrelation, ist die generationsübergreifende Verdienstmobilität hoch. Man spricht von einem hohen Niveau an Chancengleichheit. In diesem Fall, in dem ein wichtiges Merkmal der Lebensumstände bekannt ist – das Erwerbseinkommen eines Elternteils –, lassen sich keine Informationen über die Zukunftsaussichten des Kindes ableiten. In Wirklichkeit ist die Korrelation in vielen Ländern (OECD, 2018c) hoch.

Dieser Ansatz liefert uns aber nicht die Art von Information, die wir benötigen, um die eigentliche Ursache der Chancenungleichheit herauszufinden. Eine Gesellschaft kann trotz eines durchschnittlich hinreichenden Mobilitätsniveaus Armutsfallen aufweisen. Ein Instrument, das häufig verwendet wird, ist die Mobilitätsmatrix. Dadurch kann beispielsweise die Wahrscheinlichkeit beschrieben werden, mit der sich eine Person, deren Eltern in den mittleren Einkommensdezilen angesiedelt sind, zwischen dem obersten und dem untersten Quintil auf- oder abwärtsbewegt. Einer derartigen Mobilitätsmatrix ist zu entnehmen, ob Armutsfallen existieren. Diese sind vorhanden, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass Personen in unteren Einkommensdezilen signifikante Aufstiegsmöglichkeiten haben, gering ist. Ob Personen in einem mittleren Einkommensdezil mehr Aufwärtsmobilität haben, spielt dabei keine Rolle.

Mit hinreichend Daten lässt sich die oben beschriebene Korrelationsanalyse verfeinern und die Korrelation zwischen dem Einkommen (und dem Bildungsniveau) einer Person und dem ihrer Eltern im unteren, mittleren oder oberen Teil der Einkommensverteilung ermitteln.

Eines der Hauptprobleme bei der Umsetzung dieser Konzepte ist Datenmangel. Besonders spürbar wird diese Einschränkung, wenn es darum geht, langfristige Trends zu ermitteln. Ideal wäre es, den Zusammenhang zwischen dem Lebenseinkommen einer Person heute und dem Lebenseinkommen ihrer Eltern oder zwischen dem der Eltern und dem der Großeltern ermitteln zu können, was Einkommensdaten voraussetzt, die Jahrzehnte zurückgehen.27 Stehen weniger Daten zur Verfügung, kann beispielsweise das Einkommen einer Person im Alter von 40 Jahren mit dem ihrer Eltern im Alter von 40 Jahren verglichen werden. Ändert sich aber das Verdienstprofil im Lauf der Zeit und auf den verschiedenen Einkommensstufen, verlieren Korrelationen zwischen den Ergebnissen von Personen und den Merkmalen ihrer Eltern an Aussagekraft.

Natürlich werden Vor- und Nachteile nicht nur über Einkommenseffekte von einer Generation auf die nächste übertragen, sondern über ein breiteres Spektrum an Parametern, darunter in erster Linie die Bildung.

Längere Zeiträume lassen sich am schnellsten anhand von Indikatoren künftiger Leistungen analysieren. Ein Beispiel sind Schülerleistungen, wie sie im Rahmen der OECD-Schulleistungsstudie PISA bei 15-jährigen Schülerinnen und Schülern erhoben werden. Anhand dieser Daten kann ermittelt werden, ob es im Leben des Kindes Umstände gibt, wie beispielsweise das Bildungsniveau der Eltern, die zu Hause gesprochene Sprache oder die Anzahl der zu Hause verfügbaren Bücher, die seine Leistungen in der Schule maßgeblich beeinflussen. Die Antwort auf diese Frage ist ein klares „Ja“. Die sozioökonomische Situation der Haushalte spielt beim Kompetenzerwerb in der Schule eine bedeutende Rolle (OECD, 2013b). Andere Untersuchungen zeigen, dass Faktoren, wie die Teilnahme an Programmen der frühkindlichen Bildung, der Gesundheitszustand der Mutter und der Einfluss schädlicher Umweltbedingungen während der Schwangerschaft erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder haben können (Currie, 2009).

Den verfügbaren Daten zufolge sind die Ungleichheiten bei den Schülerleistungen (z. B. zwischen Kindern, deren Eltern ein unterschiedliches Bildungs- und Einkommensniveau haben) groß und nehmen in vielen Fällen mit der Zeit zu. Konkrete Informationen zu den untersuchten Leistungskriterien und zum Alter der Kinder halten sich jedoch in Grenzen. Würden diesbezügliche Informationen zur Verfügung stehen, könnte früher eingegriffen und vermieden werden, dass zu einem späteren Zeitpunkt im Leben der Kinder kostenaufwendigere Abhilfemaßnahmen erforderlich sind. Die sich häufenden Anzeichen für die Existenz dieser Ungleichheiten vor allem bei Kindern von Eltern, die im unteren Teil der Einkommensverteilung angesiedelt sind, lösten überall auf der Welt einen sprunghaften Anstieg des Interesses an frühkindlicher Bildung aus (Heckman und Masterov, 2004).

Menschen sind im Lauf ihres Lebens mit einer Reihe von Schocks konfrontiert (Krankheit, Entlassung usw.). Die Fähigkeit, auf derartige Schocks zu reagieren – ebenso wie die Wahrscheinlichkeit, ihnen ausgesetzt zu sein, ihr Ausmaß und ihre Dauer –, hängen weitgehend von den Lebensumständen ab. Dies ist wahrscheinlich die Hauptursache der Chancenungleichheit im Erwachsenenalter. Die Verfügbarkeit von Daten zu diesen Umständen würde helfen, die Rolle zu evaluieren, die die Sozialpolitik bei der Neutralisierung der langfristigen Effekte derartiger Schocks spielen kann.

Unsere Diskussion hat sich bisher auf die Chancenungleichheiten bei Einkommen und Vermögen konzentriert, die Chance, ein langes und gesundes Leben zu führen, ist jedoch ebenso wichtig. Vor allem in Ländern, in denen die öffentliche Gesundheitsversorgung unzureichend ist, haben Kinder armer Eltern mit größerer Wahrscheinlichkeit eine geringere Lebenserwartung und eine schlechtere Gesundheit. Gesundheit und wirtschaftliche Ergebnisse sind natürlich sehr eng miteinander verknüpft, da geringe Einkommen sowohl zu einem schlechten Gesundheitszustand beitragen als auch durch diesen bedingt sind. Nicht nur die wirtschaftlichen Vor- und Nachteile werden von einer Generation auf die nächste übertragen, sondern auch der Gesundheitszustand.

Das Geschlecht ist ein wichtiger Faktor für Ergebnisungleichheit. Viele der Indikatoren, die gewöhnlich zur Veranschaulichung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten herangezogen werden, wie beispielsweise das Verdienstgefälle, deuten zumindest in den OECD-Ländern auf einen allmählichen, wenn auch langsamen, Rückgang dieser Ungleichheiten hin. Weniger klar ist diese Schlussfolgerung allerdings, wenn die zahlreichen Faktoren berücksichtigt werden, die die Erwerbseinkommen beeinflussen (z. B. Bildung und Berufserfahrung). Abbildung 3.3 (die Kapitel 5 von Bourguignon im Begleitband entnommen ist, das wiederum auf Weichselbaumer und Winter-Ebmer, 2005, basiert) veranschaulicht, dass sich die Verdienstlücke der Frauen nach Berücksichtigung einiger dieser sonstigen Merkmale kaum oder gar nicht verringert (durchgezogene Linie in Abbildung 3.3). Mit anderen Worten: Nach Bereinigung um beobachtbare Leistungsaspekte wie Bildung bleiben bestimmte angeborene Merkmale – wie das Geschlecht – ein kritischer Bestimmungsfaktor für die weiteren Ergebnisse im Leben. Es gibt insofern keine Chancengleichheit, als das Wirtschaftssystem Männer und Frauen mit identischen Eigenschaften unterschiedlich behandelt. Das hat wiederum zur Folge, dass Maßnahmen, die einzig und allein darauf ausgerichtet sind, die Schulbesuchsquote und Erwerbsbeteiligung von Frauen zu erhöhen, nicht ausreichen, um die anhaltende Lohndiskriminierung zu überwinden.

Nichts ist für unser Verständnis einer gerechten Gesellschaft wichtiger als die Gewährleistung der Chancengleichheit. Gleichzeitig ist aber die Lücke zwischen den Daten, die wir benötigen, und den Daten, über die wir verfügen, in keinem Bereich größer als in diesem. Um diese Lücke zu schließen, bedarf es anhaltender, konzertierter und koordinierter Aktionen: Wir brauchen standardisierte Datenreihen über lange Zeiträume.

Ziel des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts ist die Erhöhung der Lebensqualität. Wer weiß besser, als jeder einzelne selbst, wie gut es ihm geht und was sein persönliches Wohlbefinden am stärksten beeinflusst? Geld ist nicht alles im Leben. Reicher zu sein, bedeutet nicht unbedingt, glücklicher oder gesünder zu sein.

Diese Feststellungen scheinen naheliegend zu sein, deuten aber darauf hin, dass es zur Beurteilung der Lebensqualität von Menschen und Gesellschaften eines Ansatzes bedarf, der über das BIP hinausgeht. Erhöht das BIP-Wachstum das empfundene (oder wie es heute heißt subjektive) Wohlbefinden der meisten Bürger? Auch wenn dies offensichtlich zu sein scheint, haben Ökonomen erst vor Kurzem in Zusammenarbeit mit Psychologen den Versuch unternommen, die Wirtschaftsleistung und den sozialen Fortschritt anhand dieser Methode zu evaluieren. Einen bedeutenden Impuls erhielten diese Arbeiten und die Einbeziehung von Fragen zum subjektiven Wohlbefinden in amtliche Erhebungen durch die Analyse im Kommissionsbericht von 2009 und die darin aufgeführte Empfehlung an die nationalen Statistikämter, derartige Fragen in ihre Erhebungen zu integrieren. Im Kommissionsbericht wurde deutlich hervorgehoben, über welches Potenzial dieser Ansatz verfügt. Das subjektive Wohlbefinden umfasst Informationen, die in konventionellen Wirtschaftsstatistiken nicht zum Ausdruck kommen, und konventionelle Wirtschaftsstatistiken können umgekehrt auch Informationen bereitstellen, die in Daten zum subjektiven Wohlbefinden nicht erfasst sind.

Stone und Krueger drücken es in Kapitel 7 im Begleitband folgendermaßen aus: „Bei Messgrößen des subjektiven Wohlbefindens [...] werden Menschen gebeten, gewisse Aspekte ihres Lebens selbst zu beurteilen, darunter ihre Lebenszufriedenheit insgesamt, ihr Wohlbefinden in bestimmten Momenten oder das Ausmaß, in dem ihr Leben ihrer Meinung nach Sinn und Zweck hat. Bei diesen Messgrößen liegt der Schwerpunkt auf der Einschätzung und dem Lebensgefühl der Menschen, und nicht auf ihren objektiven Lebensbedingungen“.

Ein typisches Beispiel, das Aufmerksamkeit erregte, war die Tatsache, dass die Indikatoren der Lebenszufriedenheit in mehreren arabischen Ländern in den Jahren vor dem Arabischen Frühling trotz eines starken BIP-Wachstums und Verbesserungen im Gesundheits- und Bildungssystem in diesen Ländern drastisch zurückgingen (Abbildung 3.4). Stone und Krueger zitieren in ihrem Kapitel weitere Beispiele, darunter die Erkenntnis, dass die Beurteilung der Lebenszufriedenheit ein stärkerer Prädiktor von Wahlergebnissen ist als konventionelle wirtschaftliche Messgrößen. Desgleichen sind die mit einem Rückgang des BIP einhergehenden Verschlechterungen der durchschnittlichen Lebensbeurteilung doppelt so stark wie die Verbesserungen infolge eines BIP-Wachstums in etwa gleicher Größenordnung. Dieses Ergebnis steht mit den Standardergebnissen der Verhaltensökonomie zur „Verlustaversion“ in Einklang (Kahneman und Tversky, 1984).

Seit 2009 wurden sowohl bei der Bewältigung technischer Probleme als auch bei der Nutzung von Indikatoren des subjektiven Wohlbefindens enorme Fortschritte erzielt. Der 2015 von der US National Academy veröffentlichte Bericht ist ein wichtiger Meilenstein (Stone und Mackie, 2015), und die OECD Guidelines on Measuring Subjective Well-Being wurden seit ihrer Veröffentlichung in nahezu allen OECD-Ländern von den Statistikämtern übernommen (OECD, 2013c).

Der Erfolg der Indikatoren des subjektiven Wohlbefindens basiert auf mehreren Forschungsergebnissen. Erstens sind die auf diese Weise erhaltenen Informationen replizierbar, und die erstellten Statistiken sind sehr zuverlässig. Zweitens lassen sich diese Indikatoren zumindest zum Teil erklären, und die Erläuterungen machen intuitiv Sinn. Menschen, die in Konfliktzonen wie Syrien leben, geben beispielsweise ein sehr geringes Niveau an subjektivem Wohlbefinden an. Gleichzeitig ist in allen Ländern zu beobachten, dass sich die Lebensqualität des Einzelnen bei einem Anstieg der Durchschnittseinkommen erhöht. Wie in Kapitel 2 dargelegt wurde, hat sich das subjektive Wohlbefinden der Menschen, und insbesondere all jener, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, in den von der Großen Rezession am stärksten betroffenen Ländern verschlechtert (OECD, 2015b).

Ein besseres Verständnis des subjektiven Wohlbefindens ist nicht nur von akademischem Interesse. Es gibt auch Aufschluss darüber, mit welchen Instrumenten sich die Lebensqualität des Einzelnen und der Gesellschaft verbessern lässt. Die Tatsache, dass die Berufstätigkeit das subjektive Wohlbefinden der Menschen erhöht, sollte die Politikverantwortlichen veranlassen, wirtschaftlichen Abschwungphasen stärker entgegenzutreten, und könnte sogar als Rechtfertigung für staatliche Beschäftigungsprogramme dienen. Dies gilt umso mehr, wenn sich die wirtschaftliche Unsicherheit negativ auf das subjektive Wohlbefinden auswirkt und Elemente hinzukommen, die den Effekt noch verstärken. Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Unsicherheit sind beispielsweise zwei solche Faktoren, die direkte Auswirkungen auf das subjektive Wohlbefinden haben. Wenn sie aber in Kombination auftreten, dürften sich ihre Effekte nicht nur einfach addieren, sondern vielmehr vervielfachen. Diese Indikatoren können wiederum andere Variablen erklären helfen, die ebenfalls von Interesse sind, auch wenn die Forschungsarbeiten diesbezüglich noch andauern und die Kausalität nicht klar ist. Wie von Krueger und Stone beispielsweise festgehalten wurde, besteht zwischen dem Gesundheitszustand der Menschen und ihrem subjektiven Wohlbefinden eine positive Korrelation. Es ist jedoch möglich, dass sich eine geringe Lebensqualität negativ auf die Gesundheit auswirkt, anstatt dass umgekehrt ein schlechter Gesundheitszustand eine geringe Lebensqualität zur Folge hat. In Wirklichkeit verläuft die Kausalität in beide Richtungen. In Zukunft wird es auch wichtig sein, zu evaluieren, wie sich ein geringeres subjektives Wohlbefinden auf das Vertrauen und die Einstellung der Bürger gegenüber der Funktionsweise des politischen Systems auswirkt.

In diesem Buch und im Begleitband haben wir die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Aspekten hervorgehoben, die in diesem Kapitel erörtert wurden. Das gilt insbesondere für das subjektive Wohlbefinden. Wie wir gerade festgehalten haben, hat ein Wirtschaftsabschwung Auswirkungen auf die Unsicherheit. Die wirtschaftliche Unsicherheit beeinträchtigt aber auch die Gesundheit, und der Gesundheitszustand sowie die Unsicherheit beeinflussen wiederum das subjektive Wohlbefinden. Arbeitslosigkeit oder auch nur die Gefahr der Arbeitslosigkeit sorgen für wirtschaftliche Unsicherheit und beeinträchtigen das subjektive Wohlbefinden. Diese Zusammenhänge zu erkennen, ist aus mindestens zwei Gründen wichtig. Zum einen hilft uns diese Erkenntnis, die vielfältigen Kanäle besser zu verstehen, über die Politikänderungen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und das gesellschaftliche Wohlergehen beeinflussen können. Zum anderen schärft sie unser Bewusstsein dafür, dass es in vielen Fällen zu Multiplikatoreffekten kommen kann. Das gilt nicht nur für die positiven Effekte, auf die wir den Fokus legen (wie z. B. die Vorteile einer expansiv ausgerichteten Fiskalpolitik für das BIP), sondern auch für indirekte Effekte – durch die Verringerung der wirtschaftlichen Unsicherheit, die Zunahme des Humankapitals und die Stärkung der Vermögensbildung. All diese Faktoren bilden zusammen das, was uns wirklich interessiert – die Auswirkungen von Politikmaßnahmen auf das Leben der Menschen.

Im Kommissionsbericht von 2009 wird argumentiert, dass das subjektive Wohlbefinden selbst bereits ein multidimensionales Konstrukt ist, das mehrere unterschiedliche Aspekte umfasst, wie Lebenszufriedenheit, positive und negative Erfahrungen sowie Eudämonie (Streben nach einem guten, sinnvollen Leben). Für jeden dieser Aspekte bedarf es eigener Indikatoren und eines besseren Verständnisses der Einflussfaktoren.

Bei Bewertungsindikatoren werden die Menschen aufgefordert, über ihr Leben nachzudenken und es zu evaluieren. Erhebungsfragen können Aufschluss darüber geben, wie Menschen ihr derzeitiges Leben insgesamt einschätzen. Messergebnisse, die auf diesen Erhebungsfragen basieren, scheinen im Großen und Ganzen mit den getroffenen Entscheidungen in Einklang zu stehen, da Menschen ihre Entscheidungen generell auf der Basis der zu erwartenden Auswirkungen auf ihre eigene Lebenszufriedenheit treffen. Es geht hier also um das ökonomische Standardkonzept des „Nutzens“.

Erfahrungsindikatoren sind anders: Sie befassen sich mit den Gefühlen, Emotionen und Gefühlszuständen einer Person (Freude, Traurigkeit, Schmerz) zu einem gegebenen Zeitpunkt. Die Messwerte dieser Indikatoren hängen von der Resilienz und Anpassungsfähigkeit des Einzelnen ab.

Eudämonie misst, inwieweit eine Person der Ansicht ist, dass ihr Leben Sinn und Zweck hat, was auch mit der psychischen Verfassung einer Person zusammenhängt.

Diese verschiedenen Indikatoren führen manchmal zu unterschiedlichen Beurteilungen des Wohlbefindens einer Person. Sie werden außerdem von verschiedenen Variablen beeinflusst, was wiederum Auswirkungen auf das beobachtete Verhalten hat. Ein besseres Verständnis der Unterschiede ist Gegenstand laufender Forschungsarbeiten.

In den meisten Selbstauskünften analysieren die Befragten vergangene Erfahrungen und sprechen nicht über ihr aktuelles subjektives Wohlbefinden. Dabei kann es zwischen vergangenen und aktuellen Erfahrungen manchmal beachtliche Unterschiede geben. Werden Eltern beispielsweise aufgefordert, Fragen zu ihren derzeitigen Erfahrungen mit der Erziehung eines Kleinkinds zu beantworten, fallen die Antworten häufig weniger positiv aus als einige Jahre später. Beide Situationen geben Aufschluss über wichtige und unterschiedliche Aspekte des Wohlbefindens. Allerdings ist für viele Zwecke, darunter auch das Verständnis von Entscheidungsprozessen und gewissen anderen Faktoren, wie dem Gesundheitszustand, die Beurteilung der aktuellen Situation besonders relevant. Um einige Probleme zu vermeiden, die durch diese unterschiedlichen subjektiven Einschätzungen entstehen, sollte die Erfassung von Echtzeit- oder Nahzeitdaten gefördert werden, insbesondere wenn es um die Erfassung von Erfahrungen und Gefühlen geht. Die Sammlung von Echtzeitdaten ist aber kostenaufwendig und manchmal unmöglich. Deshalb sind Fragen zu den Erfahrungen am Vortag mittlerweile die Norm.

Die Reihenfolge, in der die Fragen gestellt werden – die in allen Haushaltserhebungen ein methodisches Problem darstellt –, ist in Erhebungen, die Fragen zum subjektiven Wohlbefinden enthalten, besonders wichtig. Im Erhebungsdesign muss daher auf die Reihenfolge besonders geachtet werden. Auch die interpersonelle Vergleichbarkeit stellt ein Problem dar. Verschiedene Gruppen der Bevölkerung interpretieren die Fragen möglicherweise unterschiedlich oder haben unterschiedliche Bezugspunkte. Wie kann man wissen, ob es einem Italiener, der sein subjektives Wohlbefinden auf einer Skala von 0-10 mit 3 beurteilt, wirklich schlechter geht als einem Franzosen, der seine Lebensqualität mit 4 einstuft? Probleme der interpersonellen Vergleichbarkeit dieser Art belasten die Wohlfahrtsökonomie seit Langem. Dieser Zweig der Volkswirtschaft befasst sich schwerpunktmäßig mit der Beurteilung der Leistung von Wirtschaftssystemen. Uns fehlen derzeit die notwendigen Belege, um beurteilen zu können, ob die interpersonellen Unterschiede bei der Nutzung der Antwortskalen zufallsbedingt sind (und sich in großen Stichproben entsprechend ausgleichen) oder systematisch in Gruppen und Ländern auftreten. In Forschungsarbeiten zum subjektiven Wohlbefinden wird untersucht, wie diese Probleme der interpersonellen Vergleichbarkeit bewältigt werden können (z. B. durch Vignetten, d. h. konkrete Beispiele von Personen und ihrem Verhalten, die von Erhebungsteilnehmern eingestuft und dann als Maßstab für die Skalierung ihrer eigenen Antworten verwendet werden). Darüber hinaus gibt es Empfehlungen in Bezug auf die Formulierung der Fragen, das Antwortformat, den Erhebungsmodus und die Kontexteffekte, die beschreiben, wie Messfehler beherrscht und reduziert werden können. Forschungsarbeiten, in denen die Bedeutung kultureller Effekte bei Antworten auf Fragen zum subjektiven Wohlbefinden untersucht wird, kommen außerdem zu dem Ergebnis, dass diese Effekte zwar signifikant sind, aber nur einen Bruchteil der zwischen den Ländern bei der Evaluierung der Lebensqualität bestehenden Unterschiede erklären (Exton, Smith und Vandendriessche, 2015). Ganz allgemein gilt, dass Veränderungen bedeutsam sein können, wenn beim Vergleich von Niveaus Ungewissheit herrscht. Wir können also beurteilen, wie Veränderungen der Lebensumstände das subjektive Wohlbefinden der Menschen beeinflussen. Dies wird in der nachstehenden Diskussion veranschaulicht.

Der Zusammenhang zwischen subjektivem Wohlbefinden und Einkommen ist seit Lan-gem Gegenstand wissenschaftlicher Arbeiten. Aus frühen Studien zur Glücksforschung (Easterlin, 1974) geht hervor, dass sich das durchschnittliche subjektive Wohlbefinden (Evaluierung der Lebensqualität) nicht mehr erhöht, sobald Länder ein gewisses Pro-Kopf-BIP erreicht haben. Es sind große Anstrengungen unternommen worden, um dieses „Paradoxon von Easterlin“ zu erklären. Hängt das subjektive Wohlbefinden beispielsweise mit der relativen Position des Einzelnen zusammen, dürfte diese relative Position bei einer Verdopplung der Einkommen für alle unverändert bleiben. Auch das subjektive Wohlbefinden bliebe in diesem Fall unverändert. Dank neuerer Studien haben wir heute ein besseres Verständnis des Zusammenhangs zwischen dem BIP und dem subjektiven Wohlbefinden (Stevenson und Wolfers, 2012), auch wenn viele Aspekte dieses Zusammenhangs noch unklar bleiben. Wir wissen beispielsweise, dass Form und Stärke des Zusammenhangs davon abhängen, welcher Aspekt des subjektiven Wohlbefindens (die evaluative, erfahrungsbasierte oder eudämonistische Dimension) untersucht wird. Auf niedrigeren Einkommensniveaus ist der Zusammenhang zwischen BIP und subjektivem Wohlbefinden in allen Dimensionen positiv. Anders ist es auf höheren Einkommensebenen. Hier besteht ein positiver Zusammenhang zwischen dem evaluativen Wohlbefinden und dem Pro-Kopf-BIP, nicht aber zwischen dem erfahrungsbasierten Wohlbefinden und dem Pro-Kopf-BIP (Kahneman und Deaton, 2010).

Wir wissen auch, dass neben dem Einkommen viele andere Faktoren das subjektive Wohlbefinden beeinflussen (Helliwell, Layard und Sachs, 2018). Berufstätigkeit, gute Gesundheit, enge Beziehungen oder einfach Kontakte zu anderen Menschen zählen zu den wichtigsten Faktoren, wobei in den wissenschaftlichen Arbeiten noch viele weitere Faktoren identifiziert wurden. Es überrascht sicherlich niemanden, dass beispielsweise auch die Umweltbedingungen und eine saubere Luft zum subjektiven Wohlbefinden beitragen. Es sind auch eindeutige Belege dafür vorhanden, dass Kindheitserfahrungen für das subjektive Wohlbefinden von Erwachsenen von Bedeutung sind. Das Gleiche gilt für die Resilienz der Menschen, d. h. ihre Fähigkeit, sich von erlittenen Schocks zu erholen. Die Lebensqualität in der Kindheit und die emotionale Gesundheit von Kindern sind solide Prädiktoren für eine hohe Lebenszufriedenheit im Erwachsenenalter (Layard et al., 2014).

Untersuchungen des subjektiven Wohlbefindens geben Aufschluss darüber, wie es Menschen über den gesamten Lebenszyklus geht. Natürlich gibt es andere Indikatoren, wie beispielsweise Depressionen und Suizide. Diese könnten aber als Indikatoren betrachtet werden, die „Extremzustände“ des subjektiven Wohlbefindens erfassen. Wie Krueger und Stone in ihrem Kapitel im Begleitband darlegen, verläuft die Kurve der Lebenszufriedenheit in den meisten westlichen Ländern im Hinblick auf das Alter in U-Form. Dieser Verlauf trifft nicht auf das erfahrungsbasierte Wohlbefinden zu (das unter jungen Menschen oft gering ist) und in ärmeren Ländern nicht beobachtet wird (Steptoe, Deaton und Stone, 2015). Dieser Zusammenhang bleibt über verschiedene Geburtenkohorten bestehen. Dies deutet darauf hin, dass sich die Lebensprioritäten der Menschen mit zunehmendem Alter verändern (und das Einkommen eine immer geringere Rolle spielt), was wiederum bedeutet, dass die auf die älteren Generationen zugeschnittenen Maßnahmen sich auf eine Reihe von Aspekten konzentrieren sollten, die über die Einkommenssicherheit im Alter hinausgehen.

Unterschiede im subjektiven Wohlbefinden beispielsweise zwischen Personen in unterschiedlichen Altersgruppen oder Lebensumständen können die Verteilungsanalyse ebenfalls bereichern. An anderer Stelle in dieser Publikation und auch im Begleitband ist von „Ungleichheiten“ die Rede. Die bedeutendsten Ungleichheiten betreffen aber vielleicht das subjektive Wohlbefinden. Diese sollten systematischer gemessen und erfasst werden.

Unsere bisherigen Diskussionen (und noch stärker das Kapitel von Krueger und Stone) haben die Aufmerksamkeit bereits auf viele Bereiche gelenkt, in denen es weiterer Forschungsarbeiten bedarf. So haben wir beispielsweise festgestellt, dass es Indikatoren für die verschiedenen Aspekte des subjektiven Wohlbefindens gibt. Es kommt entscheidend darauf an, die Beziehungen der Indikatoren untereinander, die Faktoren, die sie beeinflussen und ihre Folgen besser zu verstehen.

Die Agenda zur Wohlstandsmessung ist sehr umfassend und die darin enthaltenen Indikatoren sind miteinander verknüpft. Wir haben bereits festgestellt, wie wichtig das subjektive Wohlbefinden als Vermittlungsvariable ist. Sobald wir über bessere Kennzahlen zur Messung der wirtschaftlichen Unsicherheit verfügen, werden wir beispielsweise besser beurteilen können, wie die wirtschaftliche Unsicherheit das subjektive Wohlbefinden beeinflusst. Und sobald uns bessere Indikatoren für das Vertrauen zur Verfügung stehen, können wir besser einschätzen, wie subjektives Wohlbefinden das Vertrauen beeinflusst und entsprechend die Bestimmungsfaktoren des gesellschaftlichen Wohlergehens in einer umfassenderen Perspektive darstellen.

Bei der Erfassung der Daten zum subjektiven Wohlbefinden sind große Fortschritte erzielt worden. Diese sind aber noch lange nicht ausreichend, insbesondere wenn wir Veränderungen im Zeitverlauf (wie sie beispielsweise bei einem Wirtschaftsabschwung erfolgen) oder im Ländervergleich beurteilen sollen. Eine kostengünstige Methode, mehr Daten zum subjektiven Wohlbefinden bereitzustellen, besteht darin, die bereits existierenden Erhebungen um Fragen zum subjektiven Wohlbefinden zu ergänzen. Wir ermutigen die nationalen Statistikämter, die regelmäßige, häufige und standardisierte Erhebung von Daten zum subjektiven Wohlbefinden auf der Grundlage der OECD-Leitsätze fortzusetzen.

Am Ende der 1990er Jahre befragte die Weltbank im Rahmen des Projekts Voices of the Poor rd. 60 000 in Armut lebende Menschen in 60 Ländern der Welt (Deepa et al., 2000). Den Armen wurde dabei die Frage gestellt, welche Aspekte ihres Lebens die größten Härten darstellten. Nach der naheliegenden Einkommensarmut nannten sie das Gefühl der wirtschaftlichen Unsicherheit.

Die Besorgnis über die wirtschaftliche Sicherheit wuchs während der Finanzkrise von 2008. Selbst noch nicht entlassene Arbeitskräfte erkannten aufgrund der drastisch steigenden Arbeitslosenquote, dass ihr Arbeitsplatz gefährdet war. Schätzungen zufolge haben in den OECD-Ländern zwischen dem letzten Quartal 2008 und dem ersten Quartal 2010, als die Beschäftigungsquote ihren Tiefstand erreichte, mehr als 12 Millionen Arbeitskräfte ihren Arbeitsplatz verloren. Mittelständische Unternehmen verzeichneten starke Umsatzrückgänge, die viele an den Rand der Insolvenz brachten, während viele andere tatsächlich Pleite gingen. Von der Abnahme des Wertpapier- und des Wohnimmobilienvermögens waren viele Menschen betroffen, insbesondere diejenigen, die sich bereits im Ruhestand befanden oder kurz davorstanden. Schul- und Studienabsolventen machten sich Sorgen, ob sie einen Arbeitsplatz finden würden, vor allem einen, der ihrer Ausbildung und ihren Kompetenzen entsprechen würde. In Ländern, in denen ein Hochschulstudium in der Regel über ein Studiendarlehen finanziert wird, sorgten sich die Absolventen, ob sie allein für die Rückzahlung ihrer Schulden ausreichend verdienen würden.

Die Auswirkungen der Krise auf das Gefühl der wirtschaftlichen Unsicherheit waren möglicherweise umso größer, als weite Teile der Gesellschaft bereits vor der Krise infolge von Veränderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik einer wachsenden Unsicherheit ausgesetzt waren. In von Deindustrialisierung geprägten Weltregionen haben sich beispielsweise die Lebensaussichten verschlechtert. Da die Sozialschutzsysteme, die aktive Arbeitsmarktpolitik und die Beschäftigungspolitik häufig unzureichend waren, entstand eine hohe Unsicherheit.

Es ist daher selbstverständlich, dass das Thema der wirtschaftlichen Sicherheit heutzutage ein größeres Anliegen ist als zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Kommissionsberichts im Jahr 2009, und zwar nicht nur für die Bürger, sondern auch für die Ökonomen und die politischen Entscheidungsträger.

Wie von Jakob Hacker in Kapitel 8 im Begleitband angeführt, ist wirtschaftliche Unsicherheit ein wichtiger Aspekt der Lebensqualität. Wenn die Länder diesem Aspekt nicht genügend Aufmerksamkeit schenkten, war dies auf die unzureichende Berücksichtigung in unseren allgemein verwendeten Statistiken zurückzuführen.

Wir konzentrieren uns hier zwar auf die wirtschaftliche Sicherheit, die Abgrenzung zwischen wirtschaftlicher Sicherheit und anderen Formen der Sicherheit ist jedoch unscharf. In Ländern, wie den Vereinigten Staaten, in denen die Kranken- und Erwerbsunfähigkeitsversicherung unzureichend ist, wodurch sich insbesondere Personen mit begrenztem Einkommen einer hohen gesundheitlichen Unsicherheit gegenübersehen, ist die wirtschaftliche Unsicherheit groß. Ein wichtiger Faktor für die Privatinsolvenz in den Vereinigten Staaten sind längere Krankheiten oder hohe Gesundheitsausgaben für bestimmte Familienmitglieder. In Ländern mit hoher physischer Unsicherheit ist die Bevölkerung zudem dem Risiko eines schweren Vermögensverlusts durch Diebstahl ausgesetzt.

Hacker definiert wirtschaftliche Unsicherheit als „Grad der Anfälligkeit von Einzelpersonen (oder Privathaushalten) gegenüber wirtschaftlichen Verlusten“. Diese weit gefasste Definition umfasst drei Elemente: 1. die Wahrscheinlichkeit eines ungünstigen Ereignisses (Schock), 2. die negativen Folgen dieses Schocks (Verlust) und 3. die Schutzmöglichkeiten, um diese Verluste zu verhindern oder zu decken (Puffer). Alle drei Elemente sind dieser Definition inhärent: eine bestimmte Wahrscheinlichkeit eines ungünstigen Ereignisses, bestimmte negative wirtschaftliche Folgen bei Eintritt dieses Ereignisses sowie bestimmte Schutzvorkehrungen (von der formalen Versicherung über die informelle Risikoteilung bis hin zur Selbstversicherung durch Ersparnisse und dergleichen), die den Effekt der Verluste u. U. ausgleichen oder verringern. All diese Elemente der wirtschaftlichen Sicherheit sind von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, Indikatoren für die Erfassung der allgemeinen wirtschaftlichen Unsicherheit zu entwickeln.

Unterscheiden lässt sich zudem innerhalb dieser Definition zwischen der „beobachteten“ (bzw. objektiven) Unsicherheit, wenn Analysten Wirtschaftsdaten nutzen, um zu bestimmen, ob Einzelne oder private Haushalte in gewisser Weise Gefahr laufen, eine starke Verminderung z. B. des Konsums zu erleiden (was möglicherweise darin zum Ausdruck kommt, dass ein hoher Anteil innerhalb einer bestimmten Gruppe eine derart starke Verminderung erfährt), und der „gefühlten“ (bzw. subjektiven) Unsicherheit, die die empfundene Vulnerabilität von Einzelpersonen widerspiegelt. Anhand des Indikators der gefühlten Unsicherheit geben Einzelne Aufschluss über ihre subjektive Reaktion auf ihre wirtschaftliche Situation, sei es durch Erhebungen, Experimente oder sonstige Erfassungsmethoden.

Bereits vor der Finanzkrise äußerten Bürger und Entscheidungsträger in fortgeschrittenen Demokratien Besorgnis darüber, dass sich die wirtschaftliche Sicherheit verringerte. In Entwicklungsländern sahen sich die Regierungen mit neuen wirtschaftlichen Risiken konfrontiert, da die Menschen in Lohnarbeit überwechselten und die traditionelle Risikostreuung durch die Familie abnahm. Sowohl in den Industrie- als auch in den Entwicklungsländern richteten sich die Befürchtungen der Öffentlichkeit auf den Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft, z. B. auf die raschen Veränderungen, die in vielen Ländern durch die Globalisierung und den technischen Fortschritt, die steigenden Gesundheitskosten und die niedrigeren Rentenleistungen (insbesondere gegenüber früheren Arbeitsverdiensten) bedingt waren, sowie auf die Rolle von Regierungen, Märkten und privaten Haushalten bei der Bewältigung der damit verbundenen wirtschaftlichen Risiken.

Wirtschaftliche Unsicherheit ergibt sich aus der Wechselwirkung zwischen Schocks, Effekten und Puffern, wobei Veränderungen bei einem der drei Elemente die wirtschaftliche Unsicherheit erhöhen können. Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur oder der Wirtschaftspolitik können die wirtschaftliche Unsicherheit in der Bevölkerung vergrößern, indem sie die Wahrscheinlichkeit eines negativen Schocks oder dessen Effekts steigern oder die Puffer reduzieren, die verfügbar sind, um auf Schocks zu reagieren. So haben beispielsweise Veränderungen der Familienstrukturen, die mit einer höheren Wahrscheinlichkeit des Alleinlebens einhergehen, einen geringeren Schutz durch die Familie zur Folge. Es wurde angeführt, dass die finanzielle Globalisierung den Ländern ein besseres Risikomanagement ermöglichen würde: Kredite würden in schlechten Zeiten aufgenommen und in guten zurückgezahlt. In den meisten Ländern (und für einen Großteil der Bevölkerung) hat sie aber zu einer höheren Volatilität und Unsicherheit geführt, wobei die Kapitalströme in der Regel eher prozyklisch als antizyklisch gewesen sind. Die Digitalisierung erhöht zwar die Wahlmöglichkeiten der Verbraucher und bietet Zugang zu neuen Dienstleistungen. Sie nährt allerdings auch die Befürchtungen über die Auswirkungen von Robotik und künstlicher Intelligenz im Hinblick auf die Verdrängung von Arbeitsplätzen und ganzen Berufen, was die Angst vor Arbeitsplatz- und Einkommensverlusten verstärkt.

Die Risiken, die zu wirtschaftlichen Verlusten führen können, sind vielfältig und gehen über den eng definierten wirtschaftlichen Bereich hinaus. Während manchen Risiken in Sozialversicherungsprogrammen Rechnung getragen wird (z. B. Arbeitslosigkeit, Behinderung, Krankheit, Alter), bleiben andere oftmals unberücksichtigt (etwa die Bedürfnisse im Fall der Langzeitpflege von gebrechlichen älteren Menschen, im Fall von psychischen Gesundheitsproblemen und im Fall von häufigen Wechseln zwischen Niedriglohnarbeit und Arbeitslosigkeit) oder werden durch Programme angegangen, die ursprünglich für frühere Risiken konzipiert wurden (wie die Programme für Kriegswitwen in den Vereinigten Staaten, die heutzutage auf die Bedürfnisse von alleinerziehenden Müttern ausgerichtet sind).

Viele in den letzten Jahren eingeleitete Sozialschutz- und Gesundheitsreformen, die entweder auf eine Eindämmung der Kosten oder eine Ausweitung des Versicherungsschutzes abzielten, haben die verfügbaren Puffer reduziert oder die Risiken auf diejenigen verlagert, die sich nicht so gut absichern konnten. Wie weiter unten erörtert, hatte die Straffung der Sozialschutzsysteme als Nebeneffekt, dass die wirtschaftliche Unsicherheit zugenommen hat. In Entwicklungsländern erfolgte die Abnahme der durch die familiären Unterstützungssysteme gebotenen Sicherheit in der Regel rascher als die Einrichtung öffentlicher Sozialschutzsysteme. Analog dazu hat sich das Risiko in fortgeschrittenen Volkswirtschaften durch den Übergang von leistungsbezogenen zu beitragsbezogenen Systemen von den Alterssicherungssystemen auf die älteren Menschen verschoben.

Selbst gute Systeme der sozialen Sicherung kompensieren nicht in vollem Umfang die durch die makroökonomische Volatilität bedingte Zunahme der wirtschaftlichen Unsicherheit. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass ein Einkommensverlust in einer bestimmten Höhe stärker gewichtet wird als ein Einkommenszuwachs in gleicher Höhe („Verlustaversion“, wie weiter oben erwähnt). Diese Erkenntnis legt den Schluss nahe, dass sich die makroökonomische Politik stärker darauf konzentrieren sollte, Konjunkturschwankungen auszugleichen, als zu versuchen, eine möglichst hohe BIP-Wachstumsrate zu erzielen.

Durch die wachsende Einkommensungleichheit erhöht sich auch die wirtschaftliche Unsicherheit: Da die Sprossen der Einkommensleiter weiter auseinanderliegen, ist das Abgleiten auf eine tiefere Sprosse folgenschwerer. Arbeitsmarktreformen zur Steigerung der Flexibilität haben den Ermessensspielraum der Arbeitgeber ausgeweitet. Sie haben aber auch die wirtschaftliche Unsicherheit der Arbeitskräfte erhöht, außer in den Ländern, in denen das Arbeitslosengeld angehoben und Unterstützungsmaßnahmen für eine rasche Wiederbeschäftigung eingeführt wurden.

Die Folgen wirtschaftlicher Unsicherheit können für den Einzelnen wie auch für die Gesamtgesellschaft sowohl wirtschaftlich als auch politisch schwerwiegend sein. Wirtschaftliche Unsicherheit ist eine Ursache von Stress und Elend auf der ganzen Welt. Wenn sich Personen, die gerade so über die Runden kommen, um die Zukunft sorgen und wissen möchten, wie sich diverse Risiken auf sie auswirken könnten, sind sie kaum in der Lage, gute Entscheidungen zu treffen, auch nicht wenn es um die Faktoren geht, die ihr künftiges Wohlergehen beeinflussen. Wirtschaftliche Unsicherheit verursacht nicht nur aktuelle, sondern auch künftige Kosten.

Eine Zunahme der wirtschaftlichen Unsicherheit wirkt sich über viele andere Kanäle auf die Lebensqualität und die Wirtschaftsleistung aus. So wird die Arbeitsautonomie durch die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust verringert. Die Arbeitszufriedenheit sinkt und damit auch das allgemeine Wohlbefinden. Angesichts wachsender wirtschaftlicher Unsicherheit und unzureichender Sicherheitsnetze sind die Menschen weniger risikobereit, was das Wirtschaftswachstum und die Unternehmertätigkeit beeinträchtigt.

Wirtschaftliche Unsicherheit unterscheidet sich konzeptionell von Armut. Sie betrifft einen wesentlich größeren Teil der Bevölkerung als Armut. Oberhalb der Armutsgrenze liegende, aber dennoch armutsgefährdete Personen können große wirtschaftliche Unsicherheit empfinden. Aufgrund der stärkeren Verbreitung führt ein wachsendes Gefühl der wirtschaftlichen Unsicherheit eher zu einer Verschiebung der politischen Macht als eine Veränderung der Armutsquote. Vielleicht wäre die Zunahme der Stimmenanteile populistischer Parteien nach der Krise weniger überraschend gewesen, wenn die größere wirtschaftliche Unsicherheit erkannt worden wäre, die in weiten Teilen der Bevölkerung durch die Krise und die anhaltenden strukturellen und politischen Veränderungen ausgelöst wurde.

Wie wir bereits festgestellt haben, erhöht sich die wirtschaftliche Unsicherheit im Fall eines schweren Abschwungs. Wirtschaftliche Unsicherheit kann den Abschwung aber auch vertiefen und ausweiten: Personen, die sich um ihre Zukunft sorgen, zögern möglicherweise Ausgaben zu tätigen, gerade in einer Zeit, in der solche Ausgaben die Erholung ankurbeln könnten.

Man könnte sich fragen, warum sich die wirtschaftliche Sicherheit nicht in den Marktpreisen widerspiegelt, wenn der Einzelne die Sicherheit so schätzt, wie er den Nährstoffgehalt von Nahrungsmitteln schätzt? Sollte der Mehrwert von Marktprodukten, die zur Verringerung der Unsicherheit konzipiert sind, nicht in einem höheren BIP zum Ausdruck kommen?

Bis zu einem gewissen Grad ist dies bereits der Fall. Der Markt bietet Versicherungen, die zur Verringerung der wirtschaftlichen Unsicherheit beitragen. Der Wert der betreffenden Produkte (der Überschuss des Preises dieser Produkte, d. h. der ausgezahlten Leistungen, über ihre Kosten, d. h. die an die Versicherungsmitarbeiter gezahlten Gehälter) ist tatsächlich im BIP erfasst. Doch aufgrund von Informationsasymmetrien, Transaktionskosten und sonstigem Marktversagen gibt es für viele wichtige Risiken keine Versicherungsmärkte.

Es wurden soziale Sicherungssysteme geschaffen, um diesem Marktversagen entgegenzuwirken und die mit Arbeitslosigkeit, Krankheit, Behinderung, Verwitwung und Alter verbundene wirtschaftliche Unsicherheit zu reduzieren. Die jüngsten Reformen haben jedoch oft zu einer Verlagerung der Risiken vom Staat auf den Einzelnen und vom Arbeitgeber auf den Arbeitnehmer geführt. Sie haben zudem die „Vergemeinschaftung“ von Risiken verringert. Betrachten wir z. B. die Risiken für die wirtschaftliche Sicherheit im Alter. Vor Einführung der staatlichen Altersrente (in den Vereinigten Staaten als social security bezeichnet) war der private Markt nicht in der Lage, regelmäßige Rentenzahlungen zu leisten (d. h. anspruchsberechtigten Personen aus dem angesammelten Vermögen bis zu ihrem Lebensende einen festen Geldbetrag zu zahlen). Auch heute noch sind die Transaktionskosten für eine regelmäßig ausgezahlte Rente hoch. Der Erwerb einer langfristigen Anleihe ist deswegen oder aufgrund von Informationsasymmetrien oder sonstigem Marktversagen häufig vorteilhafter als der Abschluss einer privaten Rentenversicherung. Allerdings wird infolge der Reformen der staatlichen Rentensysteme stärker auf den privaten Sektor gesetzt. Dem EU Pension Adequacy Report zufolge könnte die Teilprivatisierung der staatlichen Rentenversicherung im Vereinigten Königreich für männliche Durchschnittsverdiener eine Kürzung der projizierten Rentenleistungen um 52 % bewirkt haben (Europäische Kommission, 2018, S. 114). Ganz allgemein haben sich die Risiken durch den Übergang von leistungsbezogenen zu beitragsbezogenen Systemen von den Unternehmen auf die Arbeitskräfte verschoben, obwohl erstere generell besser in der Lage sind, diese Risiken zu tragen und zu steuern.

Es gibt zahlreiche Studien über die Tatsache, dass Marktversagen auf Risikomärkten weitverbreitet ist. Sozialversicherungsprogramme wurden eingerichtet, um das Versagen von Versicherungsmärkten zu kompensieren. Sie sind häufig effizienter als private Altersvorsorgesysteme, zum einen weil sie keine Werbekosten haben und zum anderen weil der private Sektor große Anstrengungen zum „Rahmabschöpfen“ unternimmt, um sicherzustellen, dass nur Personen mit dem geringsten Risiko versichert werden. Einige dieser öffentlichen Institutionen können als Ausdruck eines Gesellschaftsvertrags betrachtet werden, der aus einem demokratischen Prozess entsteht. Wenn diese Gesellschaftsverträge zu kostspielig werden, müssen Politikreformen, die darauf abzielen, die Sozialschutzsysteme finanziell tragfähig zu machen, dem Risiko entgegenwirken, dass sie möglicherweise auch die wirtschaftliche Unsicherheit von gefährdeten Bevölkerungsgruppen erhöhen.

Wenn unsere Indikatoren die Nutzeffekte nicht erfassen, die die soziale Absicherung durch eine größere wirtschaftliche Sicherheit bietet, stehen tendenziell ihre Kosten im Vordergrund, während ihr Nutzen unterschätzt wird. Der Übergang zu einem schlankeren Wohlfahrtsstaat ist daher zum Teil eine Folge der nicht sachgerechten Berücksichtigung dessen Leistungen.

Diese Nutzeffekte sind natürlich größer als nur der Wert der höheren individuellen Sicherheit. Wenn besser abgesicherte Menschen aufgrund einer guten Sozialversicherung produktiver sind und/oder produktivere, aber risikoreichere Tätigkeiten ausüben können, dann geht es der Gesellschaft besser. Einige der Vorteile der Produktivitätssteigerung werden durch die Besteuerung im öffentlichen Interesse erfasst.

Bedenken im Hinblick auf Moral-Hazard-Risiken (Negativanreize) implizieren, dass eine vollständige Absicherung nicht immer erwünscht ist. Der Angriff auf die soziale Absicherung geht jedoch über das Maß hinaus, das sich so rechtfertigen lässt, vor allem heute, wo sich so viele wirtschaftlich unsicher fühlen. Klar ist, dass wir unsere Indikatoren für wirtschaftliche Unsicherheit verbessern und Politikmaßnahmen neben anderen Zielen auch nach ihrer Wirkung auf die wirtschaftliche Sicherheit bewerten müssen.

Sowohl durch die Globalisierung als auch durch den technologischen Wandel steigt die Wahrscheinlichkeit, dass viele der oben genannten Risiken eintreten. Daher sollten die zunehmenden Risiken mit einer höheren und/oder anderen (statt geringeren) sozialen Absicherung einhergehen. Dies umfasst die Übertragbarkeit erworbener Ansprüche zwischen Beschäftigungsverhältnissen und Wohnsitzländern und Investitionen in die allgemeine und berufliche Bildung, um die Resilienz der Bevölkerung im Fall eines negativen Schocks zu erhöhen. In jedem Fall wäre es jedoch besser, die Auswirkungen der Globalisierung und des technologischen Wandels auf die wirtschaftliche Unsicherheit explizit ex ante zu berücksichtigen, anstatt lediglich ihre Effekte ex post zu bewältigen.

Bei der Gestaltung von Indikatoren für wirtschaftliche Unsicherheit werden zwei wichtige Unterscheidungen vorgenommen. Erstens wird wie weiter oben erwähnt eine Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Indikatoren gemacht. Zweitens wird unterschieden zwischen Indikatoren-Dashboards für wirtschaftliche Sicherheit, die auf mehreren separaten Indikatoren basieren, und Mehrkomponentenindikatoren, mit denen die Sicherheit auf individueller oder Haushaltsebene in einer einzigen Kennzahl erfasst werden soll. Für viele Zwecke sind Dashboards gegenüber Gesamtindizes vorzuziehen, da letztere weniger transparent sind und von den gewählten Komponenten und Gewichtungen der Analysten abhängen.

Eine der größten Herausforderungen für Wissenschaftler und Statistikämter besteht darin, eine begrenzte Zahl an Messgrößen für wirtschaftliche Sicherheit zu ermitteln, die in einem breiter gefassten Dashboard von Indikatoren für Lebensqualität verwendet werden können. Diese ausgewählten Indikatoren sollten im Allgemeinen: 1. weitgehend zwischen den einzelnen Ländern vergleichbar sein, 2. über einen hinreichend langen Zeitraum zur Beobachtung von Veränderungen verfügbar sein, 3. eng mit der tatsächlichen Erfahrung der Menschen verknüpft sein und 4. den politischen Entscheidungsträgern bei ihren Bemühungen um wirtschaftliche Sicherheit hilfreiche Informationen liefern.

Erhebungen zur Bewertung der empfundenen wirtschaftlichen Sicherheit haben den Vorteil, dass sie die individuelle Wahrnehmung der wirtschaftlichen Bedingungen auf individueller und Haushaltsebene direkt erfassen. Sie weisen allerdings zwei Schwächen auf: Zum einen wurden solche Erhebungen seit geraumer Zeit nicht mehr durchgeführt. Zum anderen unterscheiden sich die Fragen in den nationalen Erhebungen, was Ländervergleiche erschwert. Die Erhebungsfragen lassen sich in drei Kategorien einteilen: 1. die allgemeine Beurteilung der Wirtschaftslage (wie der Auskunftgebende die Wirtschaftslage der Gegenwart oder der Vergangenheit empfindet), 2. die Einschätzung der Puffer, die dem Auskunftgebenden zur Verfügung stehen (z. B. wie lange er wirtschaftliche Härten vermeiden könnte, falls er mit einem negativen Schock konfrontiert wäre) und 3. die Erwartungen im Hinblick auf künftige Schocks (die voraussichtlichen wirtschaftlichen Bedingungen in der Zukunft oder die Sorgen über bestimmte Risiken, wie den Arbeitsplatzverlust). In Haushaltserhebungen sollten alle Arten von Fragen enthalten sein.

Die Schocks, mit denen ein Einzelner konfrontiert ist (die Wahrscheinlichkeit eines Schocks sowie das Ausmaß und die Dauer der Effekte) und die Größe der Puffer, die es dem Einzelnen ermöglichen, diesen Schocks zu begegnen, werden mit objektiven Messgrößen quantifiziert. Einer dieser Indikatoren, die Jacob Hacker in seinem Kapitel im Begleitband beschreibt, befasst sich mit dem Anteil der Bevölkerung, die einen erheblichen Einkommensverlust erlitten hat (d. h. einen Rückgang des um die Haushaltsgröße bereinigten individuellen Einkommens um mindestens 25 % von einem Jahr zum nächsten). Dieser Indikator, der auf Paneldaten von derselben Person im Zeitverlauf basiert, wird inzwischen in zahlreichen Industrieländern herangezogen. Er zeigt, dass zwischen den OECD-Ländern große Unterschiede bestehen (Abbildung 3.5), wobei in vielen Ländern eine wachsende Unsicherheit festzustellen ist.28 Die anderen von Hacker erörterten objektiven Messgrößen behandeln die wesentlichen Merkmale (wie den Erfassungsgrad und den Leistungsumfang) öffentlicher Programme, die in verschiedenen Ländern zur Bewältigung von Risiken wie Arbeitslosigkeit, Behinderung, Alter usw. existieren.

Weitere Arbeiten sind erforderlich, um den besten Indikator auszuwählen, seine Merkmale zu verstehen und die Unsicherheit mit anderen Aspekten der wirtschaftlichen Leistung und des individuellen Wohlbefindens in Zusammenhang zu bringen. Die Verfügbarkeit verlässlicher und länderübergreifend vergleichbarer Daten ist daher ein entscheidendes Kriterium für die Entwicklung besserer Indikatoren für wirtschaftliche Sicherheit. Die existierenden Statistiken haben insbesondere drei Schwächen: Der Bestand an langfristigen und länderübergreifend vergleichbaren Paneldaten über das Einkommen verschiedener Personen ist begrenzt, der Großteil der Verwaltungsdaten erfasst Einzelpersonen im Zeitverlauf nur unzureichend, und Fragen zur wirtschaftlichen Unsicherheit werden in konventionellen Haushaltserhebungen nicht regelmäßig gestellt.

Die Kenngrößen komplexer Phänomene sind zwangsläufig unvollkommen, ebenso wie die Kennzahl des BIP. Das sollte uns aber nicht davon abhalten, weiter daran zu arbeiten. Wie von Jacob Hacker in seinem Kapitel beschrieben, folgt aus den bemerkenswerten Fortschritten bei der Messung der wirtschaftlichen Unsicherheit, dass die Länder die Auswirkungen von Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur und der Wirtschaftspolitik auf die wirtschaftliche Unsicherheit nicht länger außer Acht lassen sollten. Die Politik und die statistische Praxis dürfen nicht etwas ignorieren, was für die Bevölkerung und das Gemeinwesen von herausragender Bedeutung ist.

Die Bedeutung der Nachhaltigkeit wird durch die Bezeichnung der Ziele unterstrichen, die sich die Welt für die kommenden Jahrzehnte gesetzt hat: Ziele für nachhaltige Entwicklung. Wenn das heutige BIP-Wachstum auf Kosten künftiger Generationen geht, ist dies untragbar. Wenn wir über unser heutiges Handeln reflektieren, müssen wir dabei auch unser Vermächtnis an die Zukunft berücksichtigen. Wenn wir die Welt in einem schlechteren Zustand hinterlassen, dann geht unser eigener Wohlstand zulasten unserer Nachkommen. Ökonomen und Philosophen bezeichnen dies als Generationengerechtigkeit. Früher glaubte man, dass künftige Generationen automatisch bessergestellt sind als die jetzige. Es stellte sich dabei nur die Frage, um wie viel. Diese Annahme gilt heute nicht mehr.

Zur Beurteilung der Nachhaltigkeit muss bestimmt werden, ob die gegenwärtige Lebensqualität für künftige Generationen aufrechterhalten werden kann. Nachhaltigkeit hat von Natur aus mit Zukunft zu tun. Wie Yogi Berra (in Anlehnung an Niels Bohr) geistreich bemerkte, „Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen“. Die Beurteilung der Nachhaltigkeit geht mit vielen Annahmen und normativen Entscheidungen einher. Wenn der Wohlstand (gemäß einer adäquaten Messung) steigt, kann die Gesellschaft in Zukunft vermutlich so leben wie heute, d. h. sie kann den Wohlstand pro Kopf wahren. Um dieses Ergebnis sicherzustellen, brauchen wir allerdings einen umfassenden Wohlstandsindikator. Zudem müssen wir die richtigen Bewertungen vornehmen. Im Kommissionsbericht aus dem Jahr 2009 wird dargelegt, dass sich die Indikatoren für nachhaltigen Wohlstand konzeptionell von den Indikatoren für gegenwärtige Lebensqualität unterscheiden, außer in dem Maße, in dem die gegenwärtige Lebensqualität auf individueller Ebene durch Ängste über die Nachhaltigkeit selbst beeinträchtigt wird.29 Es ist möglich, dass die Lebensqualität heute durch den teilweisen Abbau des Kapitalstocks gesteigert wird, der für die Aufrechterhaltung der Produktion und des Wohlstands in Zukunft unerlässlich ist.

Die unmittelbarste Bedrohung für die Nachhaltigkeit ist die Umweltbelastung. Wir leben in einer begrenzten Biosphäre. Bislang haben die Ökonomen diese Begrenzung ignoriert und Wirtschaftswachstumsmodelle ohne Ende konstruiert. Als der Club of Rome vor etwa einem halben Jahrhundert anfing, über Die Grenzen des Wachstums (Meadows et al., 1972) zu debattieren, kam eine Welle des technologischen Optimismus auf. Das Argument lautete: Wir sind innovativ, deshalb können wir unabhängig von den Begrenzungen der Erde um sie herum innovieren. Dieser Techno-Optimismus wird nun infrage gestellt, vor allem angesichts des wachsenden Bewusstseins für den Klimawandel, der durch die Anhäufung von Treibhausgasen in der Atmosphäre verursacht wird. Naturwissenschaftler haben daher für mehrere maßgebliche Arten von Naturkapital einen „sicheren Abstand“ (safe operating space) zu bestimmten Schwellenwerten beziffert (Rockström et al., 2009). Es könnte natürlich eine technologische Revolution geben. Im Wettlauf zwischen der Technologie und der Zerstörung der Erde durch den Menschen – des einzigen Planeten, den er zum Leben hat – sieht es allerdings so aus, als würde die Technologie verlieren. Wir steuern auf disruptive Veränderungen in unserem Ökosystem zu: Temperaturen und Meeresspiegel steigen, Krankheitsüberträger und Wetterschwankungen nehmen zu. Es handelt sich dabei um eine Vielzahl von Veränderungen, die zumindest künftigen Generationen Kosten aufzubürden drohen, welche ihren Lebensstandard u. U. erheblich senken werden. Großstädte werden betroffen sein, und Hunderte Millionen, vielleicht Milliarden, Menschen werden umgesiedelt werden müssen. Die Welt ist mit unzähligen Umweltbedrohungen konfrontiert.

Die Krise von 2008 hat zudem gezeigt, dass möglicherweise das Wirtschaftssystem selbst nicht nachhaltig ist. Ein Großteil des vor der Krise beobachteten BIP-Wachstums basierte auf einer Blase, und als die Blase platzte, verpuffte auch der vermeintliche Wohlstand. Länder, die meinten, umsichtig zu handeln (wie Spanien und Irland), stellten fest, dass ihren Ausgaben Einnahmen aus Blasen gegenüberstanden. Familien, die meinten, ihre Schulden auch bei stagnierenden Löhnen erhöhen zu können, weil ihr Vermögen unter dem Einfluss der steigenden Wohnimmobilienpreise wuchs, wurden auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Sie hatten über ihre Verhältnisse gelebt, und die Versprechungen eines stetig steigenden Lebensstandards erwiesen sich als falsch: In weiten Teilen der fortgeschrittenen Länder war der Lebensstandard kaum besser als Jahrzehnte zuvor.

Die Kommission betonte 2009, wie wichtig es ist, die Nachhaltigkeit in all diesen Dimensionen zu betrachten. Sie war sich sehr wohl bewusst, dass die wirtschaftlichen Standardmessgrößen nichts davon erfassten, und beschäftigte sich daher mit der Frage, welche Indikatoren die Nachhaltigkeit am besten widerspiegelten. Die Kommission kam zu folgendem Konsens: Wenn die Märkte gut funktionierten, könnte eine umfassende Messgröße des „Kapitals“ eines Landes konzipiert werden, d. h. des Werts der Ressourcen, die eine Generation an die nächste weitergibt. Diese Messgröße würde sämtliche Kapitalformen berücksichtigen: Sach- und Wirtschaftskapital (Gebäude und Maschinen), Humankapital (und Wissenskapital), Naturkapital (Umweltressourcen) sowie Sozialkapital (Vertrauen und Beziehungen untereinander). Wenn wir unseren Nachkommen mehr Kapital hinterlassen, als wir geerbt haben, dann stehen unsere Nachkommen wahrscheinlich besser da. Ihr Lebensstandard wird mindestens so hoch sein wie der der heutigen Generation. Von einem solchen Wachstum können wir sagen, dass es nachhaltig ist. Hierbei handelt es sich um den Kapitalansatz für Nachhaltigkeit.

Die Kommission erkannte jedoch, dass dieser Ansatz, vor allem in seiner praktischen Umsetzung, viele Probleme aufwirft. Das erste und offensichtlichste Problem ist, dass zukunftsgerichtete Märkte häufig nicht sehr gut funktionieren. An den Wohnimmobilienmärkten entstand eine Blase, weil die Märkte den Wohnimmobilien einen übermäßig hohen Wert beimaßen. Fünfzig Jahre lang haben Ökonomen untersucht, warum die Märkte diese Preise so oft systematisch falsch bewerteten. Im Fall der natürlichen Ressourcen ist das Marktversagen noch offensichtlicher: Generell gibt es keinen festgesetzten Preis für CO2-Emittenten oder Biodiversitätsverlust.30

Das offensichtliche Scheitern einer Preisfestsetzung veranlasste die Kommission zu dem Vorschlag, in dem Indikatoren-Dashboard einige physische Indikatoren aufzunehmen, wie den CO2-Fußabdruck oder die CO2-Konzentration in der Atmosphäre.

Im enger gefassten Bereich der Ökonomie müssen zudem einige Vermögensindikatoren herangezogen werden (siehe weiter unten). Leider wird das Augenmerk im öffentlichen Diskurs größtenteils auf die Bruttoverschuldung, insbesondere auf die Staatsverschuldung, gelenkt. In Kapitel 2 wurde betont, dass dies eine einseitige Sichtweise ist: Niemand würde bei einer Unternehmensbewertung nur die Schulden und nicht die Vermögenswerte betrachten. Auf die Gesamtbilanz kommt es an. Unvollständige Informationen sind gefährlich, denn die alleinige Fokussierung auf die Verschuldung kann die Länder dazu veranlassen, Maßnahmen zu ergreifen (wie die Kürzung produktiver Investitionen), die der Zunahme der Verbindlichkeiten zwar entgegenwirken, aber negative Folgen haben, sodass das betroffene Land insgesamt schlechter dasteht.

Andere Vermögensaspekte, wie das Sozial- und das Humankapital, stellen die Wohlstandsmessung sogar vor noch größere Herausforderungen. Wie bereits erwähnt, entschied sich die HLEG, ihre Aufmerksamkeit nur auf einen Aspekt zu richten, nämlich auf das Vertrauen, einen wichtigen Bestandteil des Sozialkapitals (siehe weiter unten).

Wie von De Smedt, Giovannini und Radermacher in Kapitel 9 des Begleitbands dargelegt, besteht ein weiteres Problem des Kapitalansatzes darin, dass er einen simplen Kompromiss nahelegen könnte: Man könnte die Beeinträchtigung des Umweltkapitals einfach durch eine Erhöhung des Wirtschaftskapitals (Sachkapitals) kompensieren. Diese Argumentation veranlasste manche Ökonomen zu der Ansicht, dass es besser wäre, heute nichts gegen den Klimawandel zu unternehmen. Wir sollten einfach genug Geld (Wirtschaftskapital) beiseitelegen, damit künftige Generationen für den Fall eines voranschreitenden Klimawandels finanziell besser gestellt sind, indem wir ihnen insgesamt mehr Kapital hinterlassen.

Selbst zum Zeitpunkt des Kommissionsberichts hatten wir Zweifel an dieser Argumentation. Der Umfang des zusätzlichen Wirtschaftskapitals, das zum Ausgleich der Folgen des Klimawandels erforderlich wäre, ist praktisch gesehen einfach nicht verfügbar. Jeder rationale Diskurs müsste das Risiko in Betracht ziehen und anerkennen, dass wir im schlimmsten Fall – wenn das Ausmaß und die Auswirkungen des Klimawandels am gravierendsten sind – kaum in der Lage wären, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um diese Effekte auszugleichen.

Die Arbeit der HLEG hat diese Risiken auf verschiedene Weise aufgezeigt. Erstens hob sie die Konzepte der Resilienz und der Anfälligkeit hervor. Zweitens konzentrierte sie sich auf die Komplexität des wirtschaftlichen/sozialen/ökologischen Systems als Ganzes. Komplexe Systeme zeichnen sich durch starke Nichtlinearitäten und Wechselwirkungen aus, die sie schwer vorhersehbar machen. Selbst einfache komplexe Systeme können eine chaotische Dynamik hervorrufen, wobei das System ohne erkennbare Muster ewig schwingt. Kleine Veränderungen der Ausgangsbedingungen oder der Parameterwerte des Systems können große Veränderungen der Systemdynamik verursachen. Diese inhärente Unsicherheit sollte uns besonders vorsichtig werden lassen, da uns große Veränderungen im Ökosystem bevorstehen. Der deutliche Anstieg der atmosphärischen Treibhausgase ist eine solche Veränderung. Im Verlauf der Debatten über den Klimawandel sind bereits mehrere Entwicklungen eingetreten, die teilweise nicht vorhergesehen wurden: Die tauenden Permafrostböden setzen Methangase frei, die die Permafrostschmelze beschleunigen. Aufgrund der schmelzenden Polkappen sinkt das Rückstrahlungsvermögen der Erde, wodurch die globale Erderwärmung weiter zunimmt. So kann es zu einer plötzlichen Umkehrung der Meeresströmungen kommen.

Analytisch betrachtet funktionieren Preissysteme nur, wenn die zugrunde liegende Technologie den bekannten Mustern abnehmender Grenzerträge folgt. Diese sind beispielsweise zu beobachten, wenn man in der Landwirtschaft immer mehr Arbeit und Kapital in den Boden steckt. Die ersten Pioniere der mathematischen Ökonomie haben das verstanden (Arrow und Debreu, 1954).31 Leider haben die Anhänger der Marktwirtschaft diese Erkenntnis in der Praxis aus den Augen verloren – ein Fehler, der immer wichtiger wurde, da viele konventionelle Annahmen der Wirtschaftsmodelle widerlegt wurden, wie etwa jene, die mit FuE, Lernen, Insolvenz, Ansteckung usw. zusammenhängen (Stiglitz und Greenwald, 2016; Battiston et al., 2013). Die Tatsache, dass die Systemdynamik so empfindlich auf kleinste Veränderungen der Ausgangsbedingungen und der Parameterwerte reagiert, bedeutet, dass es selbst dann, wenn es möglich wäre, wettbewerbliche Preise für die Zukunft festzusetzen, außerordentlich schwierig wäre, mit Sicherheit zu sagen, wie diese Preise aussehen sollten, da kleine Fehler bei den Schätzungen der relevanten Parameter zu großen Preisveränderungen führen würden (Roukny, Battiston und Stiglitz, 2017).

Die meisten früheren Analysen schenkten den Unsicherheiten und Schwankungen nicht genügend Aufmerksamkeit – unabhängig davon, wie groß die Risiken auch waren. Ebenso wie sich der vorige Abschnitt damit befasste, wie Risiken auf individueller Ebene zu wirtschaftlicher Unsicherheit führen, richten wir den Fokus hier auf die Folgen von Risiken für die Nachhaltigkeit von Systemen. Es stellen sich zwei damit zusammenhängende Fragen.

Erstens, wie groß ist das Risiko eines negativen Schocks für das Wirtschafts- oder Umweltsystem, insbesondere eines Schocks, der den Wachstumspfad untragbar machen könnte (in diesem Fall könnte es sein, dass der bisherige Lebensstandard in Zukunft nicht erreichbar ist)? Es herrscht z. B. Unsicherheit über den Zusammenhang zwischen dem aktuellen Niveau der Treibhausgasemissionen, der CO2-Gesamtkonzentration in der Atmosphäre und dem künftigen Ausmaß des Klimawandels. Wie aus der Stern-Review (2006) hervorgeht, wird eine Stabilisierung der Treibhausgaskonzentrationen auf dem Niveau von 450 ppm (angestrebter Schwellenwert des Pariser Klimaschutzabkommens von 2015) den Anstieg der globalen Temperatur höchstwahrscheinlich auf 2 °C begrenzen. Für Treibhausgaskonzentrationen auf diesem Niveau liegt die Wahrscheinlichkeit eines Temperaturanstiegs um 3 °C allerdings noch immer bei 18% und die Wahrscheinlichkeit eines Anstiegs um 4 °C oder mehr bei 4%. Das System ist möglicherweise fragiler und anfälliger als wir derzeit annehmen, sodass das Ausmaß des Temperaturanstiegs (mit allen damit verbundenen Dominoeffekten) für ein gegebenes Niveau an Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre wesentlich größer ausfallen könnte als im Basisszenario.

Zweitens stellt sich die Frage, wie resilient das System ist, d. h. inwieweit es in der Lage ist, sich beispielsweise von einem großen Schock zu erholen?

Wir könnten uns zumindest im Prinzip vorstellen, die Anfälligkeit des Wirtschafts- und Umweltsystems – unter Berücksichtigung seiner Resilienz – zu quantifizieren, indem wir fragen (analog zur Art und Weise, wie wir die Auswirkungen der Ungleichheit messen), wie viel eine Person oder eine Gesellschaft bereit wäre aufzugeben (bezogen auf ihren Wohlstand), um dieses Risiko zu beseitigen. Desgleichen könnten wir den Wert einer verbesserten Resilienz des Systems messen, indem wir feststellen, um wie viel die „Anfälligkeitsprämie“ dadurch sinkt. Beide Arten von Messgrößen dürften jedoch auf individueller und Länderebene variieren. Die Frage, wie viel die Gesellschaft für die Verringerung der Anfälligkeit bezahlen würde, erfordert eine Beurteilung des Wohlstands über Generationen hinweg. Eine angemessene Beurteilung des Wohlstands künftiger Generationen – insbesondere unter Berücksichtigung der Risiken sehr adverser Szenarien des Klimawandels und in der Erkenntnis, dass die Gesellschaft bei diesen Risiken nur begrenzt in der Lage wäre, die drohende Katastrophe zu bewältigen – impliziert wiederum, dass wir mit ziemlicher Sicherheit nicht genug investieren, um die Anfälligkeit zu reduzieren.

In Kapitel 2 sind wir auf die besonderen Schwierigkeiten bei der Messung des Kapitals (insbesondere des Humankapitals) eingegangen, vor allem in der Zeit nach einer Krise. Wir haben dort dargelegt, wie ein zu niedrig ausgewiesener Effekt der Rezession und der damit einhergehenden Austeritätspolitik auf den Wohlstand (und damit auf die Nachhaltigkeit) dazu führt, dass die staatlichen Stellen Maßnahmen ergreifen, die nicht entschlossen genug sind, um die Wirtschaft anzukurbeln.

Wir haben ferner einige der unzureichenden Messgrößen zur Beurteilung der wirtschaftlichen Nachhaltigkeit diskutiert (wenn man nur die Bruttostaatsschuldenquote betrachtet). Außerdem haben wir die Frage erörtert, wie diese Messgrößen u. U. dazu beigetragen haben, dass die Reaktion auf den Abschwung schwächer als erwünscht ausfiel. Wie bereits festgestellt, haben die Standardmessgrößen selbst im Vorfeld der Krise möglicherweise den Eindruck erweckt, dass es der Wirtschaft besser ging als es tatsächlich der Fall war, – und das nicht nur, weil die Staatseinnahmen aufgrund der mit der Blase verbundenen Kapitalerträge künstlich aufgebläht wurden. Die gestiegenen Risiken für die Banken haben die Spanne zwischen Kredit- und Einlagenzinsen und damit die gemessene Wertschöpfung der Finanzintermediäre erhöht.32

Seit dem Bericht von 2009 wurde die Verfügbarkeit von Daten zur ökologischen Nachhaltigkeit deutlich verbessert. Im Jahr 2012 verabschiedete die Statistische Kommission der Vereinten Nationen – die Hüterin der amtlichen Statistik – als statistischen Standard (mit demselben Status wie das System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen – SNA) das System der integrierten Umweltökonomischen Gesamtrechnungen (System of Environmental-Economic Accounting – SEEA). Das SEEA ist ein Satellitensystem des SNA, in dem Wirtschafts- und Umweltdaten zusammengeführt werden. Das SEEA bietet somit ein Konzept, in dem Umweltstatistiken vollständig in die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen integriert sind. Es liefert einen Messrahmen für die Analyse der Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft und Umwelt.33

Die SEEA-Konten erfassen die Ströme von natürlichen Ressourcen, Produkten und Reststoffen, die (als Materialinput) in das Wirtschaftssystem einfließen und (als Abfälle) wieder ausscheiden. Diese Konten (wozu sowohl Strom- als auch Bestandskonten in monetären und physischen Einheiten zählen) umfassen mineralische und energetische Ressourcen, Land- und Bodenressourcen, Holz-, Wasser- und aquatische Ressourcen sowie sonstige biologische Ressourcen (Vereinte Nationen et al., 2014).34 Während dieses Satellitensystem auf einer ökonomischen Perspektive beruht, gehen die Ökosystemkonten35 (deren Status noch als „experimentell“ gilt) von einer Perspektive der Ökosysteme aus, die sowohl den Wechselbeziehungen zwischen Ökosystemen und menschlichen Aktivitäten als auch zwischen Ökosystemen Rechnung trägt (inwieweit z. B. Feuchtgebiete von der Wasserführung eines angrenzenden Wassereinzugsgebiets abhängig sind). Dies sind zwar wichtige Entwicklungen, die Erstellung dieser Konten wird sich aber über einen langen Zeitraum erstrecken, da verschiedene Länder verschiedenen Arten von natürlichen Ressourcen Vorrang einräumen werden. Wir verfügen also bisher weder über adäquate Messgrößen der Risiken für das natürliche System noch über einen wissenschaftlichen Konsens darüber, wo die planetaren Grenzen und Kipppunkte liegen (Steffen et al., 2015).

Bei näherer Betrachtung der einzelnen Bestandteile des „Kapitals“, des Begriffs, der der Nachhaltigkeit zugrunde liegt, stellen wir sowohl auf konzeptioneller Ebene als auch bei der Umsetzung viele ungelöste Messprobleme fest. Abgesehen von den weiter unten erörterten Fragen zur Messung von Vertrauen und Sozialkapital gibt es auch ungelöste Kontroversen über die Frage, wie die Erschöpfung natürlicher Ressourcen, die Umweltzerstörung und der Biodiversitätsverlust am besten zu erfassen sind. So wird beispielsweise die Entdeckung (oder Bestätigung der Existenz) einer wirtschaftlich verwertbaren natürlichen Ressource (die den Bestand der „nachgewiesenen Reserven“ erhöht) im System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen als Vermögenszuwachs behandelt, was bedeutet, dass es zu keiner Kapitalverringerung kommt, wenn Entdeckung und Abbau Hand in Hand gehen. Das wäre der Fall, wenn es unendliche natürliche Ressourcen gäbe, und man sie nur noch entdecken müsste. Knapp sind bei dieser Sichtweise die Informationen darüber, wo sich die Ressourcen befinden, und nicht die Ressourcen an sich. Realistischer ist jedoch, dass im Fall vieler nicht produzierbarer und nicht erneuerbarer Ressourcen die Ressourcen endlich sind. Verbrauchen wir diese Ressourcen, verringert sich unser Naturkapital, auch wenn Entdeckungen dies aufwiegen können.

Das SEEA befasst sich mit dieser Frage. Während das SNA nur mineralische und energetische Rohstoffe berücksichtigt, die angesichts der jeweiligen Preise und verfügbaren Technologien wirtschaftlich verwertbar sind, erfasst das SEEA (zumindest theoretisch) sämtliche bekannten mineralischen und energetischen Rohstoffe, ob sie verwertbar oder nicht verwertbar sind. Die Abgrenzung von mineralischen und energetischen Rohstoffen lässt sich in den Konten aber leichter durch physische als durch monetäre Messgrößen ausweiten. Die Bewertung des Vorkommens von mineralischen und energetischen Rohstoffen, insbesondere jener, die derzeit nicht verwertet werden, da die Marktpreise unter den Förderkosten liegen, stellt die Statistikämter vor große Herausforderungen.36

Humankapital ist ein weiterer wichtiger Vermögenswert für Einzelne und die Gesellschaft, um den Wohlstand im Zeitverlauf zu sichern. Mehr Humankapital und weniger Ungleichheit bei der Humankapitalverteilung kann sehr positive Auswirkungen auf die Wirtschaft und das gesellschaftliche Wohlergehen haben. Humankapital erhöht die künftige Produktivität und die Innovationsfähigkeit. Menschen mit Hochschulbildung leben länger, haben ein höheres Einkommen und mehr Vermögen. Ihr Gesundheitszustand ist besser, sie haben dichtere Netzwerke und sind aktivere Bürger. Während sich die Lebensqualität sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft verbessert, wenn das Humankapital zunimmt, werden die Kompetenzen und Qualifikationen obsolet, wenn sie (z. B. am Arbeitsplatz) nicht eingesetzt werden. Markt- und Einzelentscheidungen können jedoch ein unzureichendes Humankapital zur Folge haben. Dies ist der Fall, wenn seine Vorteile nicht vollständig erkannt werden, wenn es nicht der Person oder dem Unternehmen zugutekommt, die in Humankapital investieren, oder wenn die Ressourcen für Investitionen in Humankapital begrenzt sind.

Das Problem besteht darin, dass es keine voll zufriedenstellende Methode zur Messung des Humankapitals gibt. Ein Ansatz konzentriert sich auf die „Kosten“ (wie die Kosten für den Aufbau von Sachkapital). Sachkapital wird jedoch auf wettbewerbsorientierten Märkten erworben und veräußert, sodass der Preis einer Maschine gewissermaßen ihren zugrunde liegenden „Wert“ widerspiegelt. Humankapital entsteht durch formale Bildung, die größtenteils öffentlich angeboten wird, aber auch durch Berufserfahrung und Erziehung: In keinem dieser Fälle verfügen wir über eine gute Methode, um den Wert des erworbenen Vermögenswerts zu bestimmen. Ein anderer Ansatz betrifft das während des Erwerbslebens einer Person z. B. durch Bildung und Berufserfahrung „generierte Einkommen“. Dies ist aber mit mindestens zwei Problemen verbunden. Erstens ist es unmöglich, genau festzustellen, welcher Anteil des generierten Einkommens auf Investitionen und welcher auf eigene Anstrengungen zurückzuführen ist. Es kann z. B. sein, dass Personen mit höherem Bildungsniveau härter arbeiten. In diesem Fall wird ein Teil des höheren Einkommens, der mit Hochschulbildung zusammenhängt, fälschlicherweise dem Humankapital zugeschrieben, sodass dessen Umfang und Bedeutung überschätzt werden. Zweitens legt dieser Ansatz nahe, dass der einzige Wert des Humankapitals darin besteht, mehr Waren und Dienstleistungen zu produzieren. Bei diesem Ansatz besitzt eine Person kein Humankapital mehr, wenn sie in Rente geht. Das ist offensichtlich falsch. Selbst dann zahlt sich Humankapital weiterhin in Form eines höheren Wohlstands aus.

Während beide der oben beschriebenen Ansätze zur Messung des Humankapitals darauf abzielen, einen monetären Wert für den Bestand an Humankapital abzuleiten, verfolgt die OECD einen praktischeren Ansatz, der darin besteht, die wichtigen kognitiven und arbeitsplatzrelevanten Kompetenzen zu messen, die Erwachsene benötigen, um an der Gesellschaft erfolgreich teilzuhaben. Diese Herangehensweise ist mit dem Ansatz vergleichbar, der zur Messung der Kompetenzen 15-jähriger Schülerinnen und Schüler verwendet wird. Ein weiteres Beispiel ist die OECD-Erhebung über die Kompetenzen Erwachsener, die bislang in 40 Ländern durchgeführt wurde, wobei die zweite Erhebungsrunde 2019 startete. Physische Messgrößen dieser Art sind auch in Zukunft erforderlich und müssen auf mehr Länder und mehr Arten von (nicht kognitiven) Kompetenzen ausgeweitet werden.

In den vorherigen Abschnitten wurden einige Aspekte der wirtschaftlichen Leistung umrissen, die in den politischen Erörterungen in der Regel zu kurz kommen. Es wurde darauf hingewiesen, dass dies u. a. dadurch bedingt sein könnte, dass sie in unseren Standardmessgrößen der Wirtschaftsleistung – wie dem BIP – und des sozialen Fortschritts nur unzureichend berücksichtigt sind.

In diesem Abschnitt betrachten wir einen Bereich, der erst kürzlich ins Blickfeld des ökonomischen Diskurses gerückt ist: das Sozialkapital im Allgemeinen und Vertrauen im Besonderen. Im Kommissionsbericht von 2009 wurde die Bedeutung des Sozialkapitals als Bindemittel, das die Gesellschaft zusammenhält, anerkannt. Dabei wurde auf die wichtige Rolle hingewiesen, die soziale Bindungen innerhalb der Gemeinschaft für das individuelle und gesellschaftliche Wohlergehen spielen. Der Grad der Verbundenheit mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft variiert erheblich von einer Person zur anderen. Menschen mit mehr Verbindungen sind anderen gegenüber dabei im Vorteil.37 Die ungleiche Verteilung des Sozialkapitals ist eine wichtige Ursache für die Chancenungleichheit.

Dank Sozialkapital können Verträge ohne Einschaltung der Gerichte erfüllt werden. Wenn jeder Vertrag gerichtlich durchgesetzt werden müsste, könnte das Marktsystem nicht funktionieren. Die meisten Wirtschaftsbeziehungen beruhen jedoch nicht auf Verträgen, sondern auf generalisiertem Vertrauen. Vertrauen wird in der Geschichte des Finanzwesens und der Finanztransaktionen seit Langem als grundlegender Faktor anerkannt. Heute existiert ein umfangreiches Angebot an Fachliteratur zum Sozialkapital. Einige Aspekte wurden spieltheoretisch untermauert. Dabei wurde gezeigt, dass es rational ist, wenn sich die Teilnehmer bei wiederholten Spielen kooperativ und vertrauenswürdig verhalten (Dasgupta und Serageldin, 2000). In jüngerer Zeit wurden in einem geringeren Teil der Fachliteratur soziologische und kulturpsychologische Erkenntnisse aufgegriffen, um vertrauenswürdiges und kooperatives Verhalten zu erklären – beispielsweise um den Erfolg der Mikrokreditvergabe in Bangladesch und ihren Misserfolg in Indien zu erläutern (Haldar und Stiglitz, 2016).

Die HLEG entschied sich dafür, ihre Aufmerksamkeit nur auf einen – wenn auch sehr wichtigen – Aspekt des Sozialkapitals zu richten, nämlich auf das Vertrauen. Yann Algan definiert Vertrauen in Kapitel 10 des Begleitbands als „Glaube einer Person daran, dass eine andere Person oder Institution ihren Erwartungen eines positiven Verhaltens entsprechen wird“. Das Konzept des Vertrauens ist aus folgenden Gründen so nützlich: 1. Es gibt verschiedene relativ kohärente Möglichkeiten, es zu messen, 2. Schwankungen beim Vertrauensniveau lassen sich anhand von Theorie und gesundem Menschenverstand erklären, 3. es lässt sich zeigen, dass Vertrauensindikatoren mit anderen Kennzahlen der Wirtschaftsleistung und des individuellen Wohlergehens zusammenhängen. In Anbetracht seiner Bedeutung sollten politische Entscheidungsträger dem Faktor Vertrauen mehr Aufmerksamkeit schenken und prüfen, wie sich die von ihnen ergriffenen Maßnahmen darauf auswirken.

Die Krise von 2008 führte nicht nur zu einem Verlust an wirtschaftlicher Sicherheit, sondern auch an Vertrauen. Dies war insbesondere darauf zurückzuführen, dass der Umgang mit der Krise in weiten Teilen der Bevölkerung als unfair empfunden wurde, wie in Kapitel 2 ausgeführt. Dieser Vertrauensverlust (in die Mitmenschen und in die Institutionen) dürfte ein dauerhaftes Vermächtnis der Krise bleiben. In Anbetracht dessen, was wir über die Bestimmungsfaktoren des Vertrauens wissen, war dieser Verlust vorhersehbar.

Wir sollten das Vertrauen als Aktivposten betrachten, als wesentlichen Bestandteil des Sozialkapitals. Vertrauen aufzubauen ist ein langsamer Prozess. Es kann sich jedoch rasch in Luft auflösen, wenn die Menschen den Eindruck haben, dass sich andere nicht vertrauenswürdig verhalten. Es gibt daher starke Hysterese-Effekte, d. h. langfristige Auswirkungen früherer Maßnahmen auf die gegenwärtigen oder künftigen Umstände und Verhaltensweisen.

Es gibt viele verschiedene Formen von Vertrauen. Ein entscheidender Unterschied besteht zwischen dem Vertrauen, das sich die Menschen gegenseitig entgegenbringen (interpersonales Vertrauen), und dem Vertrauen in Institutionen (institutionelles Vertrauen). Es ist zudem möglich, dass in einer gegebenen Gesellschaft bestimmten Institutionen Vertrauen entgegengebracht wird, anderen jedoch nicht; Vertrauen zwischen persönlich miteinander bekannten Personen, nicht jedoch zwischen Fremden (generalisiertes Vertrauen). Zwischenmenschliches Vertrauen und Vertrauen in Institutionen sind zwar nicht dasselbe, sie hängen jedoch zusammen. Wenn Institutionen schlecht funktionieren und die Rahmenbedingungen als unfair betrachtet werden, sinkt die Bereitschaft der Menschen, miteinander zu kooperieren – es entsteht eine „Misstrauensgesellschaft“ (Coyle, 2013). Es wird dann schwieriger, Politikmaßnahmen im Sinne des Gemeinwohls umzusetzen, was dem Populismus den Weg ebnet und sogar die Demokratie gefährden kann (Inglehart und Norris, 2016).

In der Regel nimmt mit zunehmender Entfernung der Beziehung bzw. der Institution das Vertrauen ab – von „lokal“ bis zu „national“ oder „global“ und von der Familie über die weitere Verwandt-/bzw. Bekanntschaft bis hin zu Fremden. Auch wenn jeder Aspekt des Vertrauens seine eigenen Bestimmungsfaktoren, Ursachen und Folgen hat, gibt es einige allgemeine Muster, die im Folgenden kurz erörtert werden.

Es herrscht ein Mangel an guten Vertrauensindikatoren, was dazu beiträgt, dass die Politikverantwortlichen dem Vertrauen keine angemessene Beachtung schenken. Die vorhandenen Indikatoren des Vertrauens in Institutionen beruhen im Allgemeinen auf inoffiziellen Umfragen, bei denen verschiedene Aspekte des Vertrauens – z. B. Vertrauen in verschiedene Institutionen – mit einer einzigen Frage abgefragt werden, und die nur begrenzt Hinweise darauf liefern, wie sich das Vertrauen im Lauf der Zeit verändert. Bei den vorhandenen Indikatoren des zwischenmenschlichen Vertrauens sieht es ähnlich aus. Um Vertrauen und die Faktoren, die es begünstigen, besser zu verstehen, bedarf es daher besserer Messgrößen.

Trotz dieser Einschränkungen geht aus den vorhandenen Indikatoren hervor, dass zwischen den Ländern erhebliche Unterschiede in Bezug auf das interpersonale Vertrauen bestehen (Abbildung 3.6), dass den verschiedenen Institutionen innerhalb der Länder unterschiedlich viel Vertrauen entgegengebracht wird und dass das Vertrauen in vielen Ländern tendenziell abnimmt (z. B. in den Vereinigten Staaten, in anderen englischsprachigen Ländern und in den am stärksten von der Krise getroffenen europäischen Ländern).

Vertrauen wird in der Regel mittels der Antworten auf Erhebungsfragen gemessen. Das generalisierte Vertrauen, womit das Vertrauen in Fremde gemeint ist, wird im World Values Survey anhand folgender Frage evaluiert: „Würden Sie ganz allgemein sagen, dass man den meisten Menschen vertrauen kann, oder dass man da gar nicht vorsichtig genug sein kann?“. Das Vertrauen entspricht 1, wenn die Befragten antworten: „Man kann den meisten vertrauen“, andernfalls 0. Das generalisierte Vertrauen ist positiv mit einer Reihe positiver Phänomene korreliert: Pro-Kopf-BIP, subjektives Wohlbefinden, Gesamtfaktorproduktivität, Entwicklung der Finanzmärkte, kooperative Beziehungen zwischen Arbeits- und Führungskräften, Qualität des Rechtssystems usw. Aus Studien geht hervor, dass nicht nur zwischen den Ländern enorme Unterschiede in Bezug auf das Vertrauen bestehen, sondern auch zwischen den verschiedenen Regionen innerhalb der Länder (Putnam, Leonardi und Nanetti, 1993) bzw. zwischen den Gliedstaaten in föderal aufgebauten Ländern (Putnam, 2000).

In der Tendenz ist das Pro-Kopf-Einkommen in Ländern mit einem höheren Vertrauensniveau höher. (Es handelt sich hierbei um eine Korrelation, nicht um eine Aussage bezüglich der Kausalität. Wie bereits erwähnt, könnte es sich hier um eine Wechselbeziehung handeln, bei der einerseits ein höheres Vertrauen zu einem höheren BIP führt und andererseits ein höheres BIP wiederum zu Verhaltensweisen führt, die Vertrauen begünstigen; außerdem könnte es auch andere Faktoren geben, die sich sowohl auf das Vertrauen als auch auf das BIP auswirken.) Sowohl das generalisierte Vertrauen als auch das Vertrauen in Institutionen ist in den höheren Einkommensgruppen und bei Personen mit höherem Bildungsniveau stärker ausgeprägt. Beide Arten von Vertrauen sind bei Arbeitslosen und Einpersonenhaushalten mit einem oder mehreren unterhaltsberechtigten Kindern geringer.

Wie zu erwarten, ist Vertrauen negativ mit der Einkommensungleichheit korreliert. Die zunehmenden Einkommensdisparitäten hängen überdies mit einem geringeren Vertrauen in Institutionen zusammen. Gesellschaften, in denen das Vertrauen hoch ist, weisen – gemessen anhand des Gini-Koeffizienten – geringere Einkommensdisparitäten auf, wohingegen die Einkommensungleichheit in Gesellschaften mit niedrigem Vertrauensgrad im Allgemeinen höher ist. Das Vertrauen wird durch Dinge beeinträchtigt, die dem Gerechtigkeitssinn der Menschen zuwiderlaufen. Da – zumindest in vielen Ländern – allgemein der Eindruck vorherrscht, dass die Einkommen unausgewogen verteilt sind, ist es nicht überraschend, dass sich wirtschaftliche Ungleichheit durchweg als einer der stärksten Prädiktoren für das generalisierte Vertrauen erweist und dass die Länder mit den höchsten Vertrauenswerten die höchste wirtschaftliche Gleichheit aufweisen (z. B. die nordischen Länder, die Niederlande, Kanada; OECD, 2018a).

Die negativen Effekte auf das Vertrauen zählen zu den „versteckten Kosten“ der Ungleichheit, die gesellschaftliche Gräben vertiefen. Zweifellos ist hierin einer der Gründe für das Argument zu sehen, dass Einkommensdisparitäten negative Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistung haben. Die Gesellschaften bezahlen einen hohen Preis für die Ungleichheit, insbesondere auch durch den Verlust an Vertrauen in die Mitmenschen und in die Institutionen (Stiglitz, 2012a).

Die hier beschriebenen Muster treffen zwar auf die Mehrheit der OECD-Länder zu, es ist jedoch wichtig, die Faktoren, die das Vertrauen beeinflussen, im Kontext der jeweiligen landesspezifischen Gegebenheiten zu untersuchen.

In der Fachliteratur mehren sich die Arbeiten, die das Wachstum des modernen Kapitalismus auf Vertrauen zurückführen (Greif, 1993, 1994). Das moderne Finanzsystem wäre ohne das hohe Maß an Vertrauen, dass in den italienischen Stadtstaaten wie beispielsweise Florenz herrschte, wohl kaum entstanden.

Aus den von Arrow (1972) ausführlich beschriebenen Gründen ist Vertrauen für eine Marktwirtschaft von großer Bedeutung. So brauchen etwa Marktteilnehmer, die einander vertrauen, nicht den unmöglichen Versuch zu unternehmen, Verträge für alle möglichen künftigen Eventualitäten aufzusetzen. Dies verbessert die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft. Arrow hatte eine einfache Erkenntnis: Fehlen informelle Regeln wie vertrauensvolles Verhalten, so gibt es auch keine Märkte oder Vorteile aus Wirtschaftsbeziehungen, und Ressourcen werden fehlgeleitet. Diesbezüglich können Vertrauen und die informellen Regeln der Zusammenarbeit Unterschiede bei der wirtschaftlichen Entwicklung erklären.

Die Antworten auf Erhebungsfragen zum Vertrauen sind gute Prädiktoren der makroökonomischen Ergebnisse. Allerdings ist jenseits der Untersuchung von Arrow noch weitgehend unerforscht, welche mikroökonomischen Mechanismen hier zum Tragen kommen.

Des Weiteren besteht – wenig überraschend – ein Zusammenhang zwischen dem Vertrauen und dem subjektiven Wohlbefinden. So haben beispielsweise kooperative zwischenmenschliche Beziehungen, die durch Vertrauen erleichtert werden und das Vertrauen wiederum steigern, einen Effekt auf die Gesundheit und das Glücksempfinden der Menschen, der über den monetären Nutzen aus solchen Kooperationen hinausgeht.

Ein Mangel an Vertrauen hat darüber hinaus politische Folgen. Zunehmende wirtschaftliche Unsicherheit und höhere Arbeitslosigkeit verringern das Vertrauen in die politischen Institutionen, was wiederum zu besseren Wahlergebnissen für populistische Parteien führt. Ferner ist Vertrauen an Orte und eng miteinander verbundene Gemeinschaften gebunden, deren Mitglieder sich vertrauenswürdig gegenüber anderen Mitgliedern derselben Gemeinschaft verhalten (und damit das Wohlergehen der anderen berücksichtigen). Durch Diversität kann dieses Vertrauen in die Gemeinschaft – und allgemein die Unterstützung von Umverteilungsmaßnahmen – beeinträchtigt werden, wenn keine Integrationsmaßnahmen erfolgen.

Umgekehrt führt ein geringes Vertrauen in die Institutionen dazu, dass weniger Menschen wählen gehen (dies trifft vor allem auf Menschen mit niedrigerem Bildungsniveau bzw. mit geringerem Einkommen zu)38 oder sich anderweitig an der Politik beteiligen. Die wachsende Kluft zwischen dem beruflichen Hintergrund und den wirtschaftlichen Umständen der Wähler und denen ihrer gewählten Vertreter führt ebenfalls zu Misstrauen. In einer Stichprobe von OECD-Ländern machen Industriearbeiter und Hilfsarbeitskräfte 44 % der wahlberechtigten Bevölkerung, aber nur 10 % der gewählten Parlamentsabgeordneten aus (OECD, 2017a). In den Vereinigten Staaten betrug das Mediannettovermögen der Kongressabgeordneten 2013 über 1 Mio. USD, das Mediannettovermögen der amerikanischen Haushalte hingegen etwa 60 000 USD (Sitaraman, 2017). Eine Folge dieser Entwicklung ist, dass weniger als 30 % der Menschen in den OECD-Ländern das Gefühl haben, dass sie auf das Regierungshandeln Einfluss nehmen können.39 Im Kommissionsbericht von 2009 wurde die Bedeutung des „politischen Mitspracherechts“ für gut funktionierende Demokratien und das Wohlergehen der Menschen hervorgehoben. Der gegenwärtigen Welle populistischer Wahlerfolge in vielen fortgeschrittenen Volkswirtschaften nach zu urteilen, ist dies ein Bereich, in dem wir uns offenbar eher rückwärts als vorwärts bewegen.40, 41

Da Vertrauen ein Faktor ist, der die Ergebnisse im wirtschaftlichen und sozialen Bereich entscheidend mitbestimmt, ist es dringend erforderlich herauszufinden, über welche Institutionen und Maßnahmen das Vertrauen gestärkt werden kann. Vor allem die Politikverantwortlichen müssen darauf achten, dass ihre Maßnahmen das Vertrauen nicht untergraben.

Maßnahmen und Verfahrensweisen, die als „unfair“ wahrgenommen werden (beispielsweise in Bezug auf die Art und Weise, wie in Entscheidungsprozessen mit Menschen umgegangen wird), mindern das Vertrauen. Wie bereits festgehalten wurde, hat die scheinbar günstige Behandlung der Banker im Vergleich zu Hauseigentümern in den Vereinigten Staaten zu einem Vertrauensverlust in die Regierung geführt. So auch in Europa, wo die den Krisenländern auferlegten Sparmaßnahmen – die besonders verheerende Folgen für die einkommensschwachen Gruppen der Bevölkerung hatten – in breiten Kreisen als ungerecht empfunden wurden und das Vertrauen in die zentralen europäischen Institutionen geschwächt haben. Regierungen, deren Maßnahmen in der Bevölkerung als ungerecht aufgefasst werden, sind zumindest dazu verpflichtet, die Bürger davon zu überzeugen, dass diesen Maßnahmen „gerechte“ Beweggründe zugrunde liegen.42

Ganz allgemein liefern Indikatoren für das Vertrauen der Bürger in verschiedene Institutionen, seine Ursachen und Folgen, Anhaltspunkte für die Erstellung von Messgrößen zur „Funktionsweise des Staats“ aus der Perspektive der Bürger, denen der Staat dient. Das ist ein wichtiger Bereich für künftige statistische Arbeiten. Es gibt einige offensichtliche Kandidaten für wichtige Bestimmungsgrößen: Wenn beispielsweise Bürgerpräferenzen in der Gesetzgebung nicht berücksichtigt werden, wird das Vertrauen in eine demokratische Regierungsführung geschwächt. Desgleichen dürften Aktionen, die die demokratische Teilhabe begrenzen und den Einfluss des Geldes erhöhen, das Vertrauen in demokratische Institutionen untergraben. All dies sind empirisch überprüfbare Fragen, deren Antworten maßgeblich zu einer „Agenda für Vertrauensbildung“ beitragen könnten.

Bisher halten sich die Fortschritte bei der Ermittlung von Maßnahmen, die das Vertrauen effizient fördern, jedoch in Grenzen. Wie Algan in seinem Kapitel darlegt, beschränken sich die vorhandenen Informationen hauptsächlich auf die Bedeutung der Bildung, und insbesondere frühzeitiger Maßnahmen, wobei der Fokus auf sozialen (nicht kognitiven) Kompetenzen und Lehrmethoden liegt.43 Wenn dies zutrifft, bedeutet es, dass wir die nicht kognitiven Kompetenzen, die Einfluss auf das Vertrauen haben, anhand von Instrumenten wie der PISA- und PIAAC-Studie (OECD-Erhebung über die Kompetenzen Erwachsener) regelmäßig messen müssen.

Die bestehenden Vertrauensindikatoren müssen verbessert werden. Wie wir bereits festgehalten haben, werden Indikatoren des Vertrauens (in andere Menschen oder in Institutionen) generell aus Haushaltserhebungen abgeleitet. Die meisten Erkenntnisse stammen aber aus nicht offiziellen Erhebungen mit kleinen und nicht repräsentativen Stichproben, denen nicht entnommen werden kann, in welchen Teilen der Bevölkerung das Vertrauensdefizit am größten ist. Dank Fortschritten in der experimentellen Wirtschaftsforschung und Psychologie ist es mittlerweile möglich, Korrelationen zwischen dem von den Befragten in Erhebungen zum Ausdruck gebrachten Vertrauen und dem in Laborexperimenten zusammen mit anderen kooperativen Normen beobachteten Vertrauen zu überprüfen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Erhebungsindikatoren, insbesondere des generalisierten Vertrauens, valide Messwerte hervorbringen. In Zukunft wird es daher wichtig sein, diese Fragen in die regelmäßigen, umfassenden Datenerhebungen nationaler statistischer Ämter einzubeziehen. Die OECD Guidelines on Measuring Trust (OECD, 2017b) bieten Informationen zu verschiedenen Facetten der statistischen Qualität bestehender Vertrauensindikatoren sowie praktische Empfehlungen in Bezug auf die Art von Fragen, die in amtliche Statistiken aufgenommen werden könnten.

Gleichzeitig sollte an den Anstrengungen festgehalten werden, die zusätzlichen Vertrauensindikatoren, die sich aus Laborexperimenten ergeben können, in repräsentativen Bevölkerungsstichproben weitreichender einzusetzen. Yann Algan beschreibt in seinem Kapitel, wie diese Indikatoren von Wissenschaftlern bereits verwendet werden. Ein Beispiel ist das gemeinsam von der OECD und Sciences-Po-Paris geleitete Projekt Trustlab. Die Erkenntnisse aus dem Trustlab können verwendet werden, um die statistische Qualität der Erhebungsdaten zu überprüfen (wobei die vorhandenen Informationen darauf hindeuten, dass Personen, die in Erhebungen angeben, ein hohes Vertrauen zu haben, in Experimenten ebenfalls ein vertrauensvolleres Verhalten zeigen), aber auch, um zu untersuchen, welche Einflussfaktoren das Vertrauen am stärksten fördern. Die Ergebnisse des Trustlab deuten darauf hin, dass die Integrität der Regierung, ihre Reaktionsfähigkeit, ihr Offenheitsgrad und der Zugang zu qualitativ hochwertigen Dienstleistungen die wichtigsten Bestimmungsfaktoren für das Vertrauen der Bürger in den Staat sind (Murtin et al., 2018). Dieselben Instrumente könnten auch verwendet werden, um andere Aspekte menschlichen Verhaltens zu untersuchen, wie die Diskontierung künftiger Nutzen, die Aversion gegenüber Risiken und Ungewissheit sowie die Art und Weise, wie (wahrgenommene) Ungleichheiten das Verhalten beeinflussen. Zugleich benötigen wir aber auch noch mehr Befunde dafür, dass das Verhalten von Menschen in Spiel- und Experimentiersituationen gute Anhaltspunkte für ihr Verhalten im realen Leben liefert.

Auch wenn die Erforschung der Ursachen und Wirkungen von Vertrauen noch in den Kinderschuhen steckt, scheint sie ein sehr ergiebiger Fachbereich zu sein, der vielversprechende Einblicke in unser Verständnis von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und sozialem Fortschritt bietet. Dies ist im Kontext der Befürchtungen rund um „Fake News“ und des in vielen Ländern zu beobachtenden Vertrauensverlusts gegenüber den Medien von besonderer Bedeutung. Fehlendes Vertrauen in die Informationsquellen hat in jeder Gesellschaft tiefgreifende Folgen. Die Fähigkeit, rationale Diskussionen über alternative Politikmaßnahmen zu führen, wird geschwächt, wenn in Bezug auf die „Faktenlage“ kein Mindestkonsens besteht.

An früherer Stelle in diesem Kapitel haben wir bereits mehrere Korrelate von Vertrauen identifiziert. Unser Verständnis der Kausalität ist aber heute noch immer unzureichend, da sie häufig in beide Richtungen gehen kann. Ein mangelndes Vertrauen in öffentliche Institutionen kann zur Folge haben, dass diese ihre Umverteilungsaufgabe nicht richtig wahrnehmen können, da die Befürchtung besteht, dass die Umverteilung in die falsche Richtung erfolgt, d. h. von den Armen zu den Reichen. Andererseits untergräbt ein hohes Niveau an Ungleichheit das Vertrauen in die Institutionen, insbesondere wenn es sich nicht rechtfertigen lässt. Analog dazu kann ein gut funktionierendes Rechtssystem das Vertrauen stärken, wohingegen ein Mangel an Vertrauen ein überreguliertes Rechtssystem zur Folge haben kann. Die damit verbundene Regelungsdichte kann zu juristischen Fehlurteilen führen, die das Vertrauen wiederum untergraben können.

Weil Vertrauen für die wirtschaftlichen und sozialen Ergebnisse eine so bedeutende Rolle spielt, ist es dringend notwendig, die Institutionen und staatlichen Maßnahmen zu ermitteln, die das Vertrauen steigern. Bessere Indikatoren würden uns in die Lage versetzen, den Erfolg unserer Anstrengungen zu messen.

In allen oben erörterten Bereichen sind in den kommenden Jahren intensivere Forschungsarbeiten und bessere Daten erforderlich. Selbst für Bereiche, die in den laufenden statistischen Erhebungen bereits einen wichtigen Platz einnehmen – wie z. B. vertikale Ungleichheiten bei den wirtschaftlichen Ressourcen privater Haushalte – gibt es große methodische Herausforderungen, die einer angemessenen Erfassung der zugrunde liegenden Realitäten im Wege stehen. Andere Bereiche – wie das subjektive Wohlbefinden oder die Umweltrechnungslegung – werden von den statistischen Ämtern erst seit Kurzem berücksichtigt. Die Messinitiativen müssen verstärkt werden, um die für die Verbesserung der statistischen Qualität erforderliche Evidenzbasis zu erweitern. Andere Bereiche wiederum – wie wirtschaftliche Unsicherheit, Chancenungleichheit, Vertrauen und Resilienz – werden in den statistischen Systemen derzeit vernachlässigt. In all diesen Bereichen sind höhere Investitionen notwendig, da der Mangel an angemesseneren Indikatoren sicherlich mit dazu beigetragen hat, dass unangemessene Politikentscheidungen getroffen wurden.

Anmerkungen

← 1. 1,9 USD ist der aktualisierte Wert der früheren Definition der extremen Armut von 1 USD pro Tag.

← 2. Die OECD gibt ihre Indikatoren der Einkommensarmut im Allgemeinen auf der Grundlage eines Schwellenwerts an, der bei der Hälfte des äquivalenzgewichteten verfügbaren Medianeinkommens liegt, d. h. rd. 82 USD pro Tag für eine alleinerziehende Mutter von zwei Kindern in den Vereinigten Staaten (27 USD pro Tag und Kopf). Dies bedeutet nicht, dass „extreme Armut“ (auf der Grundlage des herkömmlichen Schwellenwerts der Weltbank) in den Industrieländern vollständig beseitigt worden wäre. In Deaton (2018) wird anhand von Daten der Weltbank dargelegt, dass von den 769 Millionen Menschen, denen 2013 weniger als 1,9 USD pro Tag zur Verfügung standen, 3,2 Millionen in den Vereinigten Staaten und 3,3 Millionen in anderen OECD-Ländern lebten. Laut Edin und Shaeffer (2016), die sich auf Daten aus dem US Census Bureau Survey of Income and Program Participation stützen, lebten 2011 4,3 % der amerikanischen Haushalte mit Kindern (bzw. 5,1 % derjenigen ohne Kinder) eigenen Angaben zufolge auf Basis ihres Bareinkommens vor Steuern von weniger als 2 USD pro Person und Tag, und für 1,6 % (bzw. 4,3 %) traf auf Basis eines Wohlfahrtsindikators, bei dem Essensmarken und andere Sozialleistungen berücksichtigt sind, dasselbe zu.

← 3. Milanovic (2016) zufolge sank der globale Gini-Koeffizient (auf der Grundlage von Daten aus Haushaltserhebungen für rd. 120 Länder, in KKP von 2005) von rd. 0,72 im Jahr 1988 auf 0,67 im Jahr 2011. Die von Bourguignon und Morrison (2002) sowie von Moatsos et al. (2014) zusammengestellten historischen Schätzungen des globalen Gini-Koeffizienten – auf Basis des Pro-Kopf-BIP als Indikator für das Durchschnittseinkommen der Länder in KKP der 1990er Jahre sowie von Indikatoren für die Ungleichheiten innerhalb der Länder aus verschiedenen Quellen – zeigen, dass von den 1820er Jahren (mit Gini-Werten von rd. 0,50) bis in die 1950er Jahre (0,67) ein Anstieg zu verzeichnen war und danach weitgehend Stabilität herrschte.

← 4. Wie Milanovic feststellt, ist die Messung der weltweiten Einkommensungleichheit ein junger Forschungsbereich. Die dafür nötigen Schätzungen werden durch eine Reihe von Faktoren beeinträchtigt, etwa die Qualität der verfügbaren Daten zur Einkommensverteilung in den einzelnen Ländern, die verwendeten Kaufkraftparitäten und mögliche Korrekturen an den Durchschnittseinkommen, die sich aus Unterschieden zwischen den Erhebungen und den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen ergeben.

← 5. Vgl. OECD Income Distribution (Dataenbank) www.oecd.org/social/income-distribution-database.htm.

← 6. Das Stolper-Samuelson-Theorem (Stolper und Samuelson, 1949) sagte voraus, dass die Öffnung des Handels zwischen fortgeschrittenen und weniger fortgeschrittenen Ländern die Löhne in den fortgeschrittenen Ländern – insbesondere für ungelernte Arbeitskräfte – senken würde, und zwar selbst nach Berücksichtigung der niedrigeren Preise, die die Verbraucher zahlen müssten.

← 7. Ob diese Maßnahmen die Lebensqualität ihrer Eltern direkt verbessern, ist umstritten. Bei der herkömmlichen Wirkungsanalyse wird unterstellt, dass dies der Fall ist, da sie die Kosten dieser Maßnahmen als Einkommensstrom betrachtet, der dem teilnehmenden Haushalt zugutekommt.

← 8. Die Verwendung des bereinigten Einkommens als Wohlstandsindikator wirft eigene Interpretationsprobleme auf. Armen Haushalten in ländlichen Gebieten kommen keine Gesundheits- und Bildungsleistungen zugute, von denen in erster Linie wohlhabendere Haushalte in städtischen Räumen profitieren. Werden diese Leistungen den erstgenannten Haushalten im Rahmen unzureichender Methoden „zugerechnet“, würde ihr wirtschaftliches Wohlergehen schlicht überbewertet. Die gleiche Verzerrung nach oben würde aus einer Analyse resultieren, bei der den Endnutzern die höheren Kosten von Gesundheitsleistungen zugerechnet werden.

← 9. Die aufgrund der Diskrepanzen zwischen den Indikatoren des durchschnittlichen Haushaltseinkommens auf der Makroebene (Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen) und auf der Mikroebene entstehenden Probleme werden im folgenden Abschnitt dieses Kapitels erörtert.

← 10. In der Standarddefinition der Haushaltseinkommen gemäß dem Canberra Group Handbook on Household Income Statistics der VN, 2. Auflage, sind Kapitalgewinne nicht berücksichtigt. Allerdings zählen Kapitalgewinne in der herkömmlichen Wirtschaftsanalyse in der gleichen Weise als Einkünfte wie Dividenden.

← 11. Diese Untererfassung bestimmter schwer zu erreichender Bevölkerungsgruppen ist eine Erklärung für die Differenz zwischen den in Erhebungen gemessenen Einkommen und den in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen erfassten Einkommen (siehe weiter unten).

← 12. Im System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen werden alle Ausgaben privater Haushalte für langlebige Verbrauchsgüter als Verbrauch zum Zeitpunkt der Anschaffung erfasst.

← 13. Auf der Grundlage von in Tansania durchgeführten Experimenten (mit 8 jeweils aus derselben Population gezogenen Zufallsstichproben im Umfang von 5 000 privaten Haushalten) kamen Beegle et al. (2012) zu dem Schluss, dass der Durchschnittsverbrauch um 12 % zurückging, wenn der Bezugszeitraum in einer Haushaltsbudgeterhebung (HBS) mit einer langen Liste von Verbrauchsgütern von 14 Tagen auf eine Woche verkürzt wurde. Bei der Kombination eines kürzeren Zeitraums mit einer kürzeren Liste von Warenarten verringerte sich der Durchschnittsverbrauch sogar um 28 %.

← 14. Die OECD hat begonnen, auf der Grundlage ihrer Guidelines for Micro Statistics on Household Wealth (OECD, 2013e) Daten zur Vermögensverteilung zu erheben. Für die erste Welle der OECD Wealth Distribution (Datenbank) wurden 17 Länder berücksichtigt; für die 2018 veröffentlichte zweite Welle wurde der Erfassungsgrad auf 27 Länder ausgeweitet. Vgl. www.oecd.org/statistics/ guidelines-for-micro-statistics-on-household-wealth-9789264194878-en.htm und https://stats.oecd. org/Index.aspx?DataSetCode=WEALTH.

← 15. Selbst die Richtung der Veränderung der Vermögensungleichheit kann unterschiedlich ausfallen, je nachdem, ob Vermögen erfasst wird, dass nicht unmittelbar von der betreffenden Person gehalten wird. Die mangelnde Offenlegung ist dabei nicht das einzige Problem. Manchmal wird in der Dokumentation über das Treuhandvermögen absichtlich verschleiert, wer der Begünstigte ist, indem mehrere Personen genannt werden, die begünstigt sein könnten. Nur die Treuhänder wissen, wer wahrscheinlich der Begünstigte des Treuhandvermögens ist. Kopczuc und Saez (2004) vertreten jedoch die Auffassung, dass das treuhänderisch verwaltete Vermögen gemessen am Gesamtvermögen der privaten Haushalte relativ gering ist und dass ihre Ergebnisse zur Vermögensungleichheit durch die Ausklammerung der Treuhandvermögen nicht beeinträchtigt werden.

← 16. Die OECD und Eurostat erstellen gegenwärtig gemeinsam mit einer Reihe nationaler Statistikämter experimentelle Schätzungen in Bezug auf die gemeinsame Verteilung von Einkommen, Verbrauch und Vermögen der privaten Haushalte auf der Grundlage des „OECD Framework for Statistics on the Joint Distribution of Household Income“, Consumption and Wealth www.oecd.org/statistics/framework-for-statistics-on-the-distribution-of-household-income-consumption-and-wealth-9789264194830-en.htm.

← 17. In der im Canberra Group Handbook (UNECE, 2011) vorgeschlagenen operationellen Definition des Haushaltseinkommens von 2011 sind die kalkulatorischen Mieten zwar enthalten, die Statistikämter mehrerer OECD-Länder (Kanada, Korea, Neuseeland und Vereinigte Staaten) berücksichtigen diese in ihren Statistiken zur Einkommensverteilung jedoch nicht systematisch. Selbst in Ländern, in denen sie berücksichtigt werden, sind die methodischen Unterschiede (beispielsweise in Bezug auf die berücksichtigten Wohnsitze, Schätzmethoden und Arten von Mietern) so groß, dass keine sinnvollen Vergleiche zwischen den Ländern vorgenommen werden können.

← 18. Dies ist z. T. durch die komplexen Fragen bedingt, mit denen die Beurteilung des allgemeinen Gleichgewichts der Inzidenz der verschiedenen Steuern und Subventionen verbunden ist. Besonders relevant ist dies für die Beurteilung der Umverteilungseffekte der verschiedenen Politikmaßnahmen.

← 19. Die vom IWF (und der Weltbank) durchgeführten Prüfungen beruhen auf den vom Commitment to Equity (CEQ) Institute entwickelten Instrumenten der Steuerinzidenzanalyse. Das 2015 an der Tulane University gegründete CEQ hat bisher Steuer- und Sozialleistungsmodelle für 43 Länder auf der Grundlage der im CEQ Handbook beschriebenen Methoden entwickelt (für 23 weitere Länder sind entsprechende Modelle in Arbeit). Vgl. http://commitmentoequity.org/.

← 20. So galt die Steuersenkung z. B. auch für bereits getätigte Investitionen, was den Schluss zulässt, dass es zu negativen Umverteilungseffekten ohne positive Anreizwirkung kam.

← 21. Eine große Gruppe von Anhängern Keynes’ um den Ökonomen Nicholas Kaldor aus Cambridge rückte die Verteilung bei der Festlegung des makroökonomischen Gleichgewichts in den Fokus. Diese Denkschule besteht bis heute, und nach der Krise von 2008 machte die vom Präsidenten der Generalversammlung der Vereinten Nationen eingesetzte Sachverständigenkommission für die Reform des internationalen Währungs- und Finanzsystems darauf aufmerksam, welche Rolle die zunehmende Ungleichheit bei der Krise gespielt hatte. Der Bericht ist verfügbar als The Stiglitz Report: Reforming the International Monetary and Financial Systems in the Wake of the Global Crisis, The New Press, New York (2010). Auch veröffentlicht in komplexem Chinesisch von Commonwealth Magazine Company, in vereinfachtem Chinesisch von Xinhua, in Französisch von Odile Jacob, in Indien von Orient Black Swan (2011), in Koreanisch von Dongnyok, in Russisch von International Relations Publishing und in Spanisch von RBA.

← 22. Stiglitz hat den Zusammenhang zwischen Ungleichheit und makroöokonomischer Stabilität theoretisch untersucht (Stiglitz, 2012a und 2012b). Weitere empirische und theoretische Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass sich ein Anstieg der Ungleichheit unter sonst gleichen Bedingungen negativ auf die Wirtschaftsleistung auswirkt und damit zu geringerem Wachstum und größerer Instabilität führt. So zeigt beispielsweise Cingano (2014), dass mehr Ungleichheit mit größerer Chancenungleichheit zusammenhängt. Dies bedeutet, dass Kinder am unteren Ende der Verteilung mit geringerer Wahrscheinlichkeit das nötige Humankapital erhalten, um ihr Potenzial voll zu entfalten. Manche Länder, wie z. B. China, sind freilich trotz hoher Ungleichheit sehr rasch gewachsen; die hohe BIP-Wachstumsrate und das „Voranpreschen“ eines Teils des Landes trugen dort aber zu einem Anstieg der Ungleichheit bei.

← 23. Neben den „Lebensumständen“ und „Anstrengungen“ spielt Glück im Leben der Menschen auch eine wichtige Rolle. Franck (2016) zeigt, wie der Faktor Glück in „Winner-takes-all“-Gesellschaften eine immer größere Rolle spielt. Er argumentiert, dass der Trend dahingehend, dass „erfolgreiche Menschen [...] die Rolle des Faktors Glück für ihren Erfolg generell herunterspielen“ eine geringere Bereitschaft dieser Menschen zu Investitionen in öffentliche Güter zur Folge hat.

← 24. Krueger (in seiner Position als Vorsitzender des Council of Economic Advisors von Präsident Obama), Rede vom 12. Januar 2012 im Centre for American Progress, https://milescorak.files. wordpress.com/2012/01/34af5d01.pdf.

← 25. Krueger bezeichnete diesen Zusammenhang in seiner Rede 2012 als die „Great Gatsby-Relation“. Chetty und seine Co-Autoren haben bei der Analyse der Situation in verschiedenen Bundesstaaten der USA einen ähnlichen Zusammenhang entdeckt (Chetty et al., 2018).

← 26. Dieser Zusammenhang lässt sich anhand des folgenden Bildes einfach verdeutlichen: Wenn die Sprossen der Leiter weiter auseinanderliegen (wie in Gesellschaften mit größeren Einkommensungleichheiten) ist es schwieriger, die Leiter hochzuklettern.

← 27. Derartige Langzeitdaten sind besonders wichtig, um herauszufinden, ob die Einkommensdynamik dem Markov-Modell entspricht, d. h. Effekte sich über Generationen erstrecken. Dies scheint in Schweden der Fall zu sein, wo Daten vorhanden sind, die derartige Effekte belegen (Adermon, Lindhal und Palme, 2016).

← 28. Ein wichtiger Bestimmungsfaktor für die wirtschaftliche Unsicherheit ist die wirtschaftliche Volatilität. Die Effekte einer gegebenen Schwankung, z. B. des BIP, auf die Unsicherheit können jedoch unterschiedlich ausfallen, was nicht nur von den verfügbaren Puffern, sondern auch von der Wirtschaftsstruktur abhängt. So reagierte beispielsweise Deutschland auf die Finanzkrise 2008 mit Kurzarbeitsprogrammen, wodurch die Risiken zwischen den Arbeitskräften wirksamer aufgeteilt wurden als in anderen Ländern.

← 29. In der Praxis können die Indikatoren, die u. U. zur Erfassung bestimmter Nachhaltigkeitsaspekte verwendet werden (z. B. Angaben zum Gesundheitszustand oder zum Bildungsstand, um das Humankapital zu messen), jedoch mit denen identisch sein, die zur Erfassung der gegenwärtigen Lebensqualität heranzogen werden.

← 30. Eine vor Kurzem eingesetzte internationale Kommission analysierte das Datenmaterial und stellte fest, dass eine Steuer in Höhe von mindestens 50-100 USD je Tonne CO2 erhoben werden müsste, wenn die Welt das gesetzte Ziel einer Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5-2 °C erreichen will (CPLC, 2017).

← 31. Man könnte sogar sagen, dass sie zusammen mit der Theorie auch „die vollständige Gebrauchsanleitung“ geliefert haben.

← 32. Im System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen wird der Produktionswert der Finanzintermediäre zu jeweiligen Preisen indirekt ohne explizite Bankgebühr ermittelt (FISIM). In der Praxis geschieht dies, indem die Differenz zwischen den beobachteten Kreditzinsen und einem risikofreien „Referenzzinssatz“ für den Betrag der ausstehenden Bankkredite herangezogen wird, während die Differenz zwischen den beobachteten Einlagenzinsen und dem risikofreien Zinssatz auf den Betrag der Bankeinlagen angewendet wird (Lequiller und Blades, 2014).

← 33. Durch Anwendung des SEEA-Konzepts können monetäre und physische Daten auf kohärente Weise zur Berechnung der Intensitäts- und Produktivitätskennzahlen verknüpft werden. Indikatoren auf Makroebene können auch nach Wirtschaftszweig aufgeschlüsselt werden. Dies ermöglicht eine Analyse der von den einzelnen Sektoren und vom Konsumverhalten ausgehenden Umweltbelastungen und eine Unterscheidung der Reaktionen des Staats von denen des Unternehmenssektors oder der privaten Haushalte.

← 34. Vgl. z. B. die physische Input-Output-Tabelle für Luftemissionen, in der die Emissionen (in Tonnen) von 14 Stoffen (von Kohlendioxid über Ammoniak bis hin zu Feinstaub) der Wirtschaft (nach Sektor), der privaten Haushalte (nach Aktivität) und der Deponien aufgeführt sind. Ebenso werden in dem physischen Bestandskonto für mineralische und energetische Rohstoffe die Anfangsbestände, die Zugänge (Neuentdeckungen, Neubewertungen, Neuklassifizierungen), die Abgänge (Fördermengen, Verluste durch Naturkatastrophen, Neubewertungen, Neuklassifizierungen) und die Endbestände von fünf Arten von natürlichen Ressourcen (Erdöl, Erdgas, Kohle und Torf, nichtmetallische und metallische Mineralien) ausgewiesen, wobei die Angaben für „wirtschaftlich abbaubare Ressourcen“ „potenziell wirtschaftlich abbaubare Ressourcen“ und „sonstige bekannte Vorkommen für nichtkommerzielle Zwecke“ getrennt gemacht werden (Vereinte Nationen et al., 2014).

← 35. In den Ökosystemkonten des SEEA wird Ökosystem definiert als „dynamischer Komplex von Gemeinschaften aus Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen sowie deren nicht lebender Umwelt, die als funktionelle Einheit in Wechselwirkung stehen“ (Vereinte Nationen et al., 2014).

← 36. Wegen eines Überblicks über die Behandlung von mineralischen und energetischen Rohstoffen im Rahmen des SEEA und die Herausforderungen im Zusammenhang mit der Bewertung dieser Ressourcen, vgl. www.oecd-ilibrary.org/docserver/3fcfcd7f-en.pdf?expires=1533647411&id= id&accname=guest&checksum=5887745A4C5EC338EABCF35528EFE5B1.

← 37. Im Sinne von Bourdieu und Passeron (1990).

← 38. Den in OECD (2017a) wiedergegebenen Daten der Comparative Study of Electoral Preferences (CSES) zufolge beträgt die Differenz bei der Wahlbeteiligung zwischen Personen im untersten und Personen im obersten Einkommensquintil im Durchschnitt von 25 OECD-Ländern Eigenangaben zufolge rd. 15 Punkte. Diese Zahlen dürften das Gefälle beim Wahlverhalten unterschätzen, da Personen, die nicht zur Wahl gegangen sind, dies mit geringerer Wahrscheinlichkeit in Umfragen angeben.

← 39. Auf der Grundlage von Daten aus der OECD-Erhebung über die Kompetenzen Erwachsener (OECD, 2013f), wiedergegeben in OECD (2017a).

← 40. Ähnliches ergab das bereits in diesem Kapitel erwähnte Projekt „Voices of the Poor“: Die fehlende Mitsprache bei Entscheidungen, die sich auf ihr Leben auswirken, war eine der großen von den Armen genannten Entbehrungen (Narayan et al., 2000).

← 41. Gegenwärtig werden Indikatoren entwickelt, um die Fortschritte in Bezug auf Ziel 16 der Agenda 2030 der Vereinten Nationen zu messen, bei dem es um „leistungsfähige und rechenschaftspflichtige Institutionen“ geht. Auf Ebene der Vereinten Nationen wurde zudem eine City Group on Governance Statistics (Praia) eingerichtet, um die statistischen Arbeiten auf diesem Gebiet fortzuentwickeln.

← 42. Einige Politikverantwortliche argumentierten, dass die Rettung von Banken, Bankern und ihren Anteilseignern unerlässlich war, um den Kreditfluss aufrechtzuerhalten. Dabei sei es auch nicht erforderlich gewesen, den Banken Auflagen in Bezug auf „gutes Verhalten“ (d. h. Kreditvergabe) zu machen. Maßnahmen dieser Art – die Banker stärker schützen als den einfachen Bürger – haben das Vertrauen in den Staat noch weiter geschwächt.

← 43. Den Mechanismen, über die die Bildung Vertrauen schafft, gebührt aber auch besondere Aufmerksamkeit. Wenn Bildung die Fähigkeit der Bürger erhöht, die Beweggründe staatlichen Handelns zu verstehen, steigert mehr Bildung natürlich das Vertrauen. Ziel ist es, hinter einer bestimmten Politikmaßnahme mehr zu sehen als eine spezifische Maßnahme, mit der die Interessen einer bestimmten Gruppe verfolgt werden. Wenn staatliche Maßnahmen jedoch weitgehend dem Interesse von Eliten dienen und Bildung dazu beiträgt, dass mehr Menschen zu den Eliten aufsteigen, kann sich die Zahl der Regierungsbefürworter erhöhen. Das Vertrauen der übrigen Bürger in die Regierung wird sich dadurch aber kaum verbessern. Aus diesem Grund haben wir in diesem Buch immer wieder betont, dass es für eine Analyse, die über das BIP hinausgeht, detaillierterer Daten bedarf als nur „Durchschnittswerten“. Eine Korrelation ist keine Kausalbeziehung. Eine bestimmte Korrelation lässt häufig mehrere Interpretationen zu, die wiederum völlig unterschiedliche Politikimplikationen haben.

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