2. Der sozioökonomische Kontext für Innovationen

Das deutsche Wirtschaftswachstum wird von hochinnovativen Industriesektoren getragen, darunter insbesondere dem Verarbeitenden Gewerbe. Für den Erhalt einer grundsätzlich hohen sozioökonomischen Lebensqualität spielt die weltweite Wettbewerbsfähigkeit vieler exportorientierter Unternehmen Deutschlands eine tragende Rolle. Ein wichtiges Vorhaben, dem sich die seit Dezember 2021 regierende Koalition verpflichtet hat, ist der Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit.

In diesem Kapitel werden jüngere Entwicklungen in der deutschen Wirtschaft im Hinblick auf ihre Rolle für das Innovationssystem diskutiert sowie aktuelle Debatten zur Innovationspolitik dargestellt.

Das vorliegende Kapitel beginnt mit einem kurzen Überblick über die oben genannten Aspekte. In Abschnitt 2.1 wird der breitere strukturelle Rahmen für Innovationen in Deutschland dargelegt, bevor in Abschnitt 2.2 ein Überblick über die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die deutsche Wirtschaft gegeben wird. Abschnitt 2.3 stellt die Nachhaltigkeitsziele der deutschen Bundesregierung vor, und Abschnitt 2.4 beendet das Kapitel mit einer Diskussion über öffentliche Investitionen.

Hochinnovative Branchen der deutschen Industrie, insbesondere im Verarbeitenden Gewerbe, sind die Eckpfeiler der Internationalisierung und Wettbewerbsfähigkeit des Landes. In der Eurozone weist Deutschland in verschiedenen Branchen – von der Chemiebranche und Pharmaindustrie bis zur Automobilindustrie und zum Maschinenbau – die höchste Wertschöpfung und Bruttoproduktion auf. Die deutschen Anlageinvestitionen und der Bruttokapitalstock liegen sowohl auf gesamtwirtschaftlicher Ebene als auch in jedem dieser Sektoren auf höchstem Niveau. Investitionen in Aktivitäten mit mittlerer und hoher Forschungs- und Entwicklungsintensität sowie in die Industrie (einschließlich Verarbeitendes Gewerbe) nehmen in der Europäischen Union den Spitzenplatz ein (OECD, 2020[1]).

In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind die Stärken und Schwächen der exportorientierten Wirtschaft Deutschlands zutage getreten. 2019 war Deutschland die offenste Wirtschaft unter den G7-Staaten: Das Verhältnis seines Gesamthandelsvolumens zum BIP lag bei 87,8 %. Zwischen 1980 und 2019 wuchsen die Exporte pro Jahr durchschnittlich um 5,3 % (BMWi, 2021[2]). Es ist dieser Exportorientierung der Wirtschaft zu verdanken, dass Deutschland sich nach der weltweiten Finanzkrise sehr schnell erholen und den Konsum im Jahr 2020 trotz niedriger Haushaltsausgaben und Investitionen sowie eines Exportrückgangs in Höhe von 9,3 % aufrecht erhalten konnte (BMWi, 2021[2]). Doch die Verflechtung der deutschen Wertschöpfungsketten wurde im Zuge der weltweiten Pandemie gestört. Die durch die russische Invasion der Ukraine verursachten Lieferkettenunterbrechungen ließen die große Abhängigkeit des Landes von russischen Rohstoffen zu Tage treten und brachten eine zentrale strukturelle Herausforderung der deutschen Wirtschaft und ihres Innovationsökosystems ans Licht (vgl. Kapitel 9 wegen einer Erörterung dieser Fragen).

Deutschlands solide Wirtschaftsleistung hat zu einem hohen Lebensstandard beigetragen. Bei einer Reihe von Indikatoren des OECD Better Life Index, darunter Kategorien wie Bildung, Kompetenzen und Selbsteinschätzung der persönlichen Zufriedenheit, befindet sich Deutschland unter den führenden OECD-Ländern (Abbildung 2.1). Rund 75 % der Personen in der Altersgruppe der 25- bis 64-Jährigen sind abhängig Beschäftigte, und die Erwerbsquote in Deutschland liegt mit 84,4 % unter den höchsten im OECD-Raum. Entsprechend verfügen 87 % der Erwachsenen der gleichen Altersgruppe über einen Abschluss im Sekundarbereich II, mithin mehr als der OECD-Durchschnitt (78 %), wobei jedoch nur 35 % der 25- bis 34-Jährigen die Tertiärbildung abgeschlossen haben, was unter dem OECD-Durchschnitt liegt (45,6 %) (OECD, 2020[3]). Das vergleichsweise niedrige Niveau an Hochschulabsolvent*innen spiegelt wahrscheinlich die deutschen Stärken im Bereich der beruflichen Bildung wider, die im Kontext des deutschen Innovationssystem einen besonderen Vorteil darstellen. Neben diesem höheren Bildungsniveau verfügt Deutschland über hochqualifizierte Arbeitskräfte. So liegt das Land laut der OECD-Erhebung über die Kompetenzen Erwachsener (PIAAC) bei der Lesekompetenz, den Rechenfertigkeiten und der Problembewältigung in hochtechnologisierten Umgebungen deutlich über dem OECD-Durchschnitt (OECD, 2019[4]).

Wie andere fortgeschrittene Volkswirtschaften sieht sich Deutschland altersbedingten demografischen Belastungen ausgesetzt, was die Herausforderungen im Bereich der Produktivität verschärft. Der Altenquotient des Landes (Zahl der über 64-Jährigen im Verhältnis zur Zahl der 15- bis 64-Jährigen) zählt mit 35 % bereits zu den höchsten in Europa und wird bis 2030 voraussichtlich auf 47,3 % ansteigen. Weil der Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter sinkt, wird sich Deutschland sowohl beim Wachstum und der Teilhabe als auch bei den Dienstleistungen und der Finanzierung der Einrichtungen des öffentlichen Gesundheits- und Sozialwesens zunehmenden Belastungen ausgesetzt sehen. Wie andere Aspekte der sozioökonomischen Lebensqualität in Deutschland sind auch die alterungsbedingten demografischen Herausforderungen durch regionale Unterschiede gekennzeichnet (Eurostat, 2021[5]). Die demografischen Belastungen wirken sich auch auf die zukünftige Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte in innovationsrelevanten Bereichen aus und werfen damit Fragen nach dem effektiven Umgang mit der Zu- und Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte auf. (Diese Fragen werden in Kapitel 6 dieses Berichts erörtert.)

Deutschland verfügt über ein stark föderalistisch geprägtes Governance-System, in dem subnationale Einheiten in den Bereichen Wissenschaft, Technologie und Innovation (STI) ein hohes Maß an Autonomie genießen. Die Regierungsverantwortung ist über die 16 Bundesländer verteilt, von denen Bayern das Bundesland mit der größten Fläche ist, Baden-Württemberg das wohlhabendste und Nordrhein-Westfalen das bevölkerungsreichste. In diesen drei Bundesländern ist außerdem ein hoher Anteil der innovativsten und wirtschaftlich erfolgreichsten Unternehmen Deutschlands angesiedelt. Im Jahr 2019 entfielen auf die Bundesregierung lediglich 29,3 % der Steuereinnahmen, was den geringsten Anteil unter den acht föderalistisch strukturierten OECD-Ländern darstellt. Der Großteil des Steueraufkommens wurde zwischen nachgeordneten Gebietskörperschaften aufgeteilt, die in Bezug auf Ausgaben und Umverteilung erhebliche Autonomie und einen großen Ermessensspielraum genießen (OECD, 2021[6]).

Das reale BIP-Wachstum in Deutschland entspricht ungefähr dem OECD-Durchschnitt. Nach dem Jahr 2000 erlebte das Land mehrere Jahre mit niedrigem – und zeitweise negativem – Wachstum, erzielte aber in den beiden Jahren vor der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 und 2009 ein Wachstum von 3 bis 4 %. Wie in anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften führte die weltweite Finanzkrise zu einer stark ausgeprägten Rezession: Die deutsche Wirtschaft schrumpfte 2009 um nahezu 6 % – eine tiefere Rezession als im OECD-Durchschnitt (3,3 %) –, bevor sie sich 2010 auf 4,2 % erholte und damit den OECD-Durchschnitt überholte. Das jährliche Wachstum verlangsamte sich seitdem etwas, blieb jedoch vergleichsweise stabil, bevor es 2020 infolge der Covid-19-Krise deutlich schrumpfte (4,6 %) (OECD, o. J.[7]). Die konjunkturelle Erholung Deutschlands im Jahr 2021 (2,9 %) wurde bereits durch Engpässe bei zentralen Vorleistungsgütern für das Verarbeitende Gewerbe, die weltweite wirtschaftliche Unsicherheit und Lieferkettenprobleme erschwert. Im Jahr 2022 werden diese Schwierigkeiten wahrscheinlich durch den Krieg in der Ukraine verstärkt, sodass eine Erholung weiter verzögert und das Wachstum gegenüber der Prognose von Dezember 2021 von 4,1 % für das Jahr 2022 geringer ausfallen wird (OECD, o. J.[8]).

Die Covid-19-Pandemie beeinträchtigte die Nachfrage, aber vor allem das Angebot der deutschen Industrie. Sie hat sich zwar erheblich auf die deutsche Wirtschaft ausgewirkt, ihr Effekt war aber von vergleichsweise kurzer Dauer (Abbildung 2.2). Während die Exporte aufgrund sinkender außenwirtschaftlicher Nachfrage während der Pandemie negativ betroffen waren, erholte sich die Nachfrage schnell wieder. Deutlich stärkere Folgen der Krise auf die deutsche Wirtschaft ergaben sich aus den Lieferkettenproblemen, die die Produktionskapazitäten des Verarbeitenden Gewerbes erheblich einschränkten. Eine Erhebung des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung ergab, dass 45 % der Unternehmen mit Lieferengpässen zu tun haben, was den höchsten Wert seit 1991 darstellt und die im Oktober 2020 ermittelten 7,5 % übertrifft (ifo Institut, 2021[9]). Die am stärksten betroffenen Unternehmen sind Produzenten von Gummi- und Kunststoffgütern (71,2 %), die nur unter Schwierigkeiten Rohstoffe beziehen konnten, sowie Automobilhersteller (64,7 %) und Computerhersteller (63,3 %).

Im Bereich der FuE-Ausgaben hatte die Pandemie verschiedenartige Folgen: Pharmaunternehmen und insbesondere Unternehmen im Bereich der Biotechnologie erhöhten ihre Ausgaben im Jahr 2020 erheblich (+20 %). Andere Unternehmen wie Informations- und Kommunikationsdienstleister (+6 %) konnten ihr Vorjahreswachstum nicht aufrechterhalten. Wiederum andere Unternehmen in der Chemiebranche (-2 %), im Automobilsektor (-5 %) und im Maschinenbau (-9 %) sowie in anderen Branchen des Verarbeitenden Gewerbes (-7 %) und in sämtlichen sonstigen Branchen (-7 %) reduzierten ihre Ausgaben für FuE. Der Maschinenbau und die Autoindustrie, zwei FuE-intensive Sektoren, waren durch die oben beschriebenen, vergleichsweise stark ausgeprägten Lieferkettenprobleme sowie durch die Auswirkungen auf die Nachfrage und sonstigen negativen wirtschaftlichen Folgen der Pandemie besonders betroffen. Insgesamt variierten die Innovationsaktivitäten in den Unternehmen stark. Eine im April 2021 erfolgte Erhebung ergab, dass Unternehmen, die vor der Pandemie fortlaufend oder gelegentlich in FuE investiert hatten, dazu neigten, die Laufzeit ihrer Innovationsaktivitäten zu verlängern, wobei einige sogar neue Innovationstätigkeiten aufnahmen. Dem gegenüber verlängerten Unternehmen, die vor der Pandemie hauptsächlich Innovationsaktivitäten ohne Forschungs- und Entwicklungsbezug nachgegangen waren, diese Tätigkeiten eher nicht und nahmen auch keine neuen auf. In allen Branchen war die zweithäufigste Reaktion der Unternehmen, wegen fehlender innovativer Ideen oder Impulse ihre Innovationsprojekte zurückzufahren. Als strategische Maßnahme setzten sich viele Unternehmen das Ziel, ihren internen Digitalisierungsgrad zu erhöhen und ihre Angebote und Vertriebskanäle zu digitalisieren. Während diese Maßnahmen in der Regel von Dauer waren, waren andere, wie beispielsweise die weitere Senkung der internen Kosten von Produktion/Dienstleistungen eher von vorübergehender Natur.

Die neue Koalitionsregierung (die seit Dezember 2021 im Amt ist) hat die ökologische Transformation zu einer tragenden Säule ihrer Agenda gemacht. Deutschland zählte 2016 zu den ursprünglichen Unterzeichnern des Pariser Klimaabkommens, in dem sich die teilnehmenden Länder zur Erreichung der CO2-Neutralität bis 2050 verpflichteten. 2021 änderte die Bundesregierung das Klimaschutzgesetz (KSG) und erhöhte die Minderungsquoten für Treibhausgasemissionen auf mittlere und lange Sicht. Mit ihrem Generationenvertrag für das Klima hat sich die Regierung zum Ziel gesetzt, den CO2-Ausstoß bis 2030 gegenüber 1990 um 65 % zu verringern, womit das ursprüngliche Ziel von 55 % übertroffen würde. Für 2040 gilt nunmehr ein Minderungsziel von 88 % und bis 2045 soll Klimaneutralität erreicht werden (Bundesregierung, 2021[11]).

Schon die vorherigen Regierungen haben Maßnahmen ergriffen, um sowohl die Energiegewinnung als auch die Energienutzung in Deutschland zu dekarbonisieren und aus der nuklearen Stromerzeugung auszusteigen. Dank konzertierter Bemühungen auf mehreren Ebenen konnten verschiedene Energieprogramme Beiträge zur sogenannten Energiewende leisten. Auch wenn mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz im Jahr 2000 die gesetzliche Grundlage für die Energiewende geschaffen und diese mit dem Energiekonzept von 2010 gestärkt wurde, wird die Politik des Weiteren durch Entwicklungen innerhalb regelmäßiger Konferenzen der Vertragsparteien geprägt, wie etwa den Verpflichtungen, die Deutschland im Pariser Abkommen eingegangen ist. Weitere Einzelheiten zu dieser Politik finden sich an anderer Stelle im vorliegenden Bericht.

Wenn Deutschland seine ehrgeizigen Ziele erreichen möchte, muss es trotz seines starken Engagements zugunsten der ökologischen Nachhaltigkeit die Umsetzung seiner regierungspolitischen Agenda zur CO2-Reduzierung und Nachhaltigkeit beschleunigen und bessere Ergebnisse erzielen. Der Kontrast zwischen Deutschlands gutem sozioökonomischen Leistungsbild im OECD Better Life Index und den schlechteren Ergebnissen in Bereichen der Umweltqualität führt einige der komplexen Herausforderungen – und oftmals gegeneinander wirkenden Kräfte – vor Augen, mit denen das Land konfrontiert ist. Die sozialen Auswirkungen sind erheblich. Über 90 % der deutschen Bevölkerung – und damit deutlich mehr als der OECD-Durchschnitt von 59 % – sind einer Feinstaubbelastung ausgesetzt, die über dem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlenen Höchstwert von 10 Mikrogramm pro Kubikmeter liegt (OECD, 2020[12]). Mit 53 800 vorzeitigen Todesfällen pro Jahr hat diese Luftverschmutzung massive Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit (EUA, 2021[13]).

Des Weiteren verursachen wichtige Wirtschaftsbranchen, darunter das Verarbeitende Gewerbe und die führenden Innovationstreiber starke Umweltverschmutzung (IEA, 2020[14]). Zwar liegen die Treibhausgasemissionen pro Kopf unterhalb des OECD-Durchschnitts, doch sind sie höher als in den meisten EU-Ländern. Die Reduzierung der Kohlenstoffintensität seit dem Jahr 2000 bleibt hinter dem OECD-Durchschnitt zurück.

Hinsichtlich der erneuerbaren Energien machen fossile Energieträger in Deutschland weiterhin einen erheblichen Anteil des für die Stromerzeugung genutzten Energiemix aus. Sektorspezifische Transformationspläne, wie sie ursprünglich im Klimaschutzplan 2050 dargelegt wurden, der durch das Klimaschutzgesetz von 2021 geändert wurde, müssen sich mit dem langfristig nicht tragbaren hohen Anteil an fossilen Energieträgern in der Energie- und Stromerzeugung auseinandersetzen. Dies gilt insbesondere angesichts der Tatsache, dass es für die Industrie und das Verarbeitende Gewerbe keine wirtschaftlichen Alternativen zur Energieerzeugung gibt. Ein hoher Anteil an fossilen Energieträgern führt außerdem zu einer sehr starken Abhängigkeit von Importen aus Russland (vgl. die diesbezügliche Diskussion in Kapitel 9). Deswegen hat sich Deutschland ambitionierte Ziele für den Ausbau der erneuerbaren Energien gesetzt und verfügt über eine Vielzahl von nationalen Strategien – darunter insbesondere die Energiewende sowie auf konkreten Technologien wie Wasserstoff aufbauenden Strategien – um die Entwicklung und wirtschaftliche Verwertung von Technologien zu beschleunigen, die dazu beitragen könnten, den Energiesektor und infolgedessen die von ihm abhängigen Branchen zu dekarbonisieren.

Die Ausrichtung öffentlicher Finanzen und Investitionen bringt im Kontext der Innovationsförderung in Deutschland unterschiedliche Folgen mit sich. Mit seiner staatlichen Unterstützung für Forschung und Innovation (F&I) nimmt Deutschland den dritthöchsten Rang ein: Im Jahr 2019, dem letzten Jahr, für das entsprechende Daten zur Verfügung stehen, stellten die staatlich finanzierten Bruttoinlandsausgaben für Forschung und Entwicklung (BAFE) 0,88 % des BIP dar (OECD, o. J.[15]). Jedoch müssen sich die politischen Entscheidungsträger im Hinblick auf dieses umfassende und finanziell gut ausgestattete System fragen, ob die Programme und die Unterstützung in ausreichendem Maß den Anforderungen der Wirtschaft in Zukunft entsprechen und nicht an denen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte ausgerichtet sind. Deutschland ist ein Land, in dem die Innovationsausgaben zum weit überwiegenden Teil durch den Unternehmenssektor getätigt werden und in dem die FuE-Aktivitäten der Unternehmen über Jahrzehnte die starke Innovationsleistung getragen haben. Doch ob die derzeitige Ausrichtung und die derzeitigen Entwicklungen der deutschen Industrie die für eine nachhaltigere Wirtschaft notwendigen Innovationen hervorbringen können, muss sich noch herausstellen. Ebenso wenig ist klar, ob Deutschland seine internationale Wettbewerbsfähigkeit in einem globalen Kontext aufrechterhalten kann, in dem Dekarbonisierung und fortgeschrittene Digitalisierung Voraussetzungen für den Erfolg sind. Da viele der Marktführer aus Deutschland in CO2-intensiven und damit u. U. störungsanfälligeren Branchen tätig sind, müssen sich die politischen Entscheidungsträger*innen mit der Frage auseinandersetzen, ob – und inwieweit – der öffentliche Sektor mehr investieren sollte, um das Innovationssystem des Landes in eine Richtung zu lenken, die Nachhaltigkeit stärker fördert. Und schließlich erfordert Innovation eine hochwertige öffentliche und private Infrastruktur. Dies ist besonders in Deutschland von Bedeutung, wo ein erheblicher Rückstau bei den öffentlichen Investitionen negative außenwirtschaftliche Effekte für die innovativen – und potenziell innovativen – Unternehmen des Landes haben kann (vgl. auch die Erörterung in Kapitel 6) (OECD, 2020[12]).

In Deutschland werden die politischen Auseinandersetzungen rund um die Förderung von Innovationen vor dem Hintergrund der langjährigen und verfassungsrechtlich verbindlichen Verpflichtung zur Begrenzung staatlicher Kreditaufnahmen auf 0,35 % des BIP geführt, wobei die Bruttostaatsverschuldung Deutschlands (68 % des BIP) vor der Pandemie (2019) die niedrigste der G7-Staaten war (OECD, 2020[12]). Diese „Schuldenbremse“ wurde 2009 im Grundgesetz kodifiziert und setzt den Bundesländern, die ab dem Jahr 2020 für ausgeglichene Haushalte sorgen müssen, strengere Grenzen. Diese nationalen Verpflichtungen wurden im Kontext des EU-Fiskalvertrags eingegangen, in dem sich die Vertragsstaaten, darunter Deutschland, verpflichtet haben, mittelfristig eine strukturelle Defizitobergrenze von 0,5 % des BIP einzuhalten. Abweichungen von der Obergrenze von 0,35 % für den Bund werden auf einem Kontrollkonto erfasst. Überschreitet ein etwaiger negativer Saldo des Kontrollkontos den Schwellenwert von 1 % des BIP, sind im Aufschwung Konsolidierungsmaßnahmen umzusetzen. Das infolge der Covid-19-Pandemie von der Bundesregierung geschnürte Konjunkturpaket, mit 6 % des BIP eines der umfangreichsten der Welt, stellte eine deutliche Abkehr von der vergleichsweise konservativen Kreditaufnahmepraxis der vorangegangenen Jahre dar. Dieses Niveau an Kreditaufnahmen wurde durch eine Klausel ermöglicht, die strukturelle Kreditaufnahmen über 0,35 % des BIP in Notfallsituationen ermöglicht, wie sie von der Bundesregierung im Jahr 2020 ausgerufen wurde.

In der jüngeren Vergangenheit haben sich öffentliche Investitionen sowohl auf nationaler Ebene als auch auf EU-Ebene zunehmend auf die Erreichung von Nachhaltigkeitszielen konzentriert, was zeigt, dass die Politik die Notwendigkeit erkannt hat, Gesellschaft und Wirtschaft auf ihrem Weg hin zu einer nachhaltigen Zukunft zu unterstützen. Das infolge der Covid-19-Pandemie von der Bundesregierung vorgestellte Konjunkturpaket stellt eine Finanzspritze für die Wirtschaft in Höhe von 50 Mrd. EUR in Form unmittelbarer öffentlicher Investitionen und von Anreizen für Investitionen des privaten Sektors dar. Ergänzt werden diese Mittel durch zusätzliche Investitionen, die im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF) der EU ausgezahlt werden. Mit 806,9 Mrd. EUR stellt sie das größte Konjunkturpaket in der Geschichte der EU dar. Die Förderschwerpunkte in deutschen ARF-Anträgen sind ein Hinweis darauf, in welche Richtung die Politik die Wirtschaft des Landes führen möchte. Zusätzlich zur kurzfristigen Unterstützung von KMU und des Privatsektors fördert die ARF auch Reformen und Investitionen, die auf digitale und ökologische Transformationen sowie im weiteren Sinne auf wirtschaftliche Resilienz und Teilhabe ausgerichtet sind. Von der ARF geförderte Projekte müssen einer der sechs Kategorien („Säulen“) angehören: ökologischer Wandel; digitaler Wandel; intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum; sozialer und territorialer Zusammenhalt; Gesundheit und wirtschaftliche, soziale und institutionelle Resilienz; Maßnahmen für die nächste Generation, Kinder und Jugendliche. Im Rahmen der ARF hat die Bundesregierung 27,9 Mrd. EUR für 50 Maßnahmen aus allen 6 Schwerpunktbereichen beantragt, die mit den von der Europäischen Kommission definierten Säulen übereinstimmen. Die sechs Schwerpunktbereiche der Europäischen Kommission lauten: Klimapolitik und Energiewende; Digitalisierung der Wirtschaft und Infrastruktur; Digitalisierung der Bildung; Stärkung der sozialen Teilhabe; Stärkung eines pandemie-resilienten Gesundheitssystems; Moderne öffentliche Verwaltung und Abbau von Investitionshemmnissen. In Deutschland gingen die größten Förderbeträge an Projekte innerhalb der Schwerpunkte „Klimapolitik und Energiewende“ (40,3 % der Gesamtfördersumme) und „Digitalisierung der Wirtschaft und Infrastruktur“ (21,1 %). Da ein überwiegender Teil der ARF-Fördermittel für F&I-Projekte ausgeschüttet wird, gibt die Konzentration der Planung und Förderung auf diese beiden Schwerpunkte Hinweise auf die WTI-Herausforderungen, mit denen die Regierung in Bezug auf Transformation und Resilienz rechnet

Obwohl öffentliche Investitionen seit 2015 zugenommen haben, besteht weiterhin erheblicher Bedarf insbesondere in Schulen, im Verkehrswesen sowie in der ökologischen und digitalen Infrastruktur (Abbildung 2.3). Dies trifft umso mehr auf kommunaler Ebene zu, wo die öffentlichen Nettoinvestitionen negativ bleiben. Ein kürzlich vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) und dem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) gemeinschaftlich erstelltes Dokument schätzte den Bedarf an öffentlichen Investitionen, die in den kommenden zehn Jahren zum Abbau des bestehenden Investitionsstaus, zum Ausbau frühkindlicher Erziehung und Bildung sowie zur Dekarbonisierung und Modernisierung von Verkehrsnetzen erforderlich sind, auf 450 Mrd. EUR (Bardt et al., 2019[16]). Seit 2003 hat sich der kommunale Nettokapitalstock um rund 80 Mrd. EUR verringert, was zu einem geschätzten Investitionsstau von 147 Mrd.  EUR insbesondere bei Investitionen in Schulen und Verkehr beigetragen hat (OECD, 2021[17]).

In einigen Fällen hat der Staat Mittel für öffentliche Investitionen zur Verfügung gestellt, doch wird deren Auszahlung durch Hürden bei der örtlichen Verwaltung gebremst. Dass der tatsächliche Erhalt von Fördermitteln eine größere Herausforderung darstellt als die Zuweisung selbst war ein häufiges Thema in den Diskussionen mit diversen Akteuren des öffentlichen und privaten Sektors. Verzögerungen bei der Auszahlung stellen insbesondere bei zeitkritischen Digitalisierungsprojekten ein Problem dar. Das gilt nicht nur für Investitionen in die digitale Infrastruktur, sondern auch in Branchen mit hohem Emissionsniveau (wie die Verkehrsbranche). Entsprechend sollte die fortdauernde und erhöhte Mittelübertragung an Kommunalverwaltungen unbedingt mit Bemühungen einhergehen, die Einschränkungen bei Planung, Bau und Politikumsetzung vor Ort abzubauen. Insbesondere Investitionen in die Konnektivitätsinfrastruktur in Deutschland würden von einer Bündelung und Straffung des Verwaltungsansatzes bei neuen Initiativen wie der gemeinsamen Nutzung von Infrastruktur profitieren.

In der Tat könnte sich eine bessere Infrastruktur – und Infrastrukturgovernance – äußerst positiv auf die Produktivität und Innovationsfähigkeit von Unternehmen auswirken. Der kürzlich veröffentliche OECD-Wirtschaftsbericht: Deutschland hob drei Möglichkeiten hervor, wie die Produktivität auf Unternehmensebene von besserer Infrastrukturgovernance profitieren könnte (OECD, 2020[12]). Erstens könnte die Auswahl der besten Infrastrukturprojekte durch eine systematischere strategische Planung unterstützt werden, wobei die OECD Recommendation on the Governance of Infrastructure die Bedeutung einer langfristigen strategischen Vision für die Infrastruktur unter Berücksichtigung von sektorübergreifenden Synergien betont. In der Transformationsphase bei der Dekarbonisierung und Digitalisierung kommt es entscheidend darauf an, einen koordinierten Ansatz bei der Infrastrukturplanung zu gewährleisten. Zweitens sollten die politischen Entscheidungsträger*innen sich darum bemühen, die Planungsverfahren vor Ort zu straffen, da allzu aufwendige und regionalspezifische Verfahren Investitionen verzögern und manchmal Kommunen dazu veranlassen können, Vorhaben zu blockieren, die auf Bundesebene beschlossen wurden. Drittens könnte Deutschland durch eine bessere Datennutzung das Preis- und Leistungsverhältnis im Beschaffungswesen verbessern, da eine anhaltende mangelnde Koordinierung durch den Bund die Möglichkeit der Kommunen beeinträchtigt, voneinander zu lernen.

Literaturverzeichnis

[16] Bardt, H. et al. (2019), „Für eine solide Finanzpolitik: Investitionen ermöglichen!“, IW-Policy Papers, No. 10/2019, Institut der Deutschen Wirtschaft, Köln, https://www.econstor.eu/bitstream/10419/206755/1/1682228312.pdf.

[2] BMWi (2021), Fakten zum deutschen Außenhandel, BMWi, Berlin, https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Aussenwirtschaft/fakten-zum-deuschen-aussenhandel.pdf.

[11] Bundesregierung (2021), „Klimaschutzgesetz 2021 – Generationenvertrag für das Klima“, Bundesregierung, Berlin, https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/klimaschutz/klimaschutzgesetz-2021-1913672.

[13] EUA (2021), „Health impacts of air pollution in Europe, 2021“, Briefing, no. 19/2021, Europäische Umweltagentur, Kopenhagen, https://www.eea.europa.eu/publications/air-quality-in-europe-2021/health-impacts-of-air-pollution.

[5] Eurostat (2021), „Old-age dependency ration increases across EU regions“, 30. September, Eurostat, Luxemburg, https://ec.europa.eu/eurostat/web/products-eurostat-news/-/edn-20210930-1.

[14] IEA (2020), Germany 2020 Energy Policy Review, Energy Policy Reviews, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/cedb9b0a-en.

[9] ifo Institut (2021), „Engpässe bei der Beschaffung könnten Aufschwung der Industrie bremsen“, Pressemitteilung, 03. Mai, ifo Institut, München, https://www.ifo.de/en/node/63076.

[17] OECD (2021), OECD Economic Outlook, Volume 2021 Issue 1, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/edfbca02-en.

[6] OECD (2021), Revenue Statistics 2021: The Initial Impact of COVID-19 on OECD Tax Revenues, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/6e87f932-en.

[12] OECD (2020), OECD-Wirtschaftberichte: Deutschland 2020, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/93cb9ab8-de.

[1] OECD (2020), „STAN Industrial Analysis 2020 ed.“, Datensatz, OECD, Paris, https://stats.oecd.org/Index.aspx?DataSetCode=STANI4_2020.

[3] OECD (2020), „Wie lebt es sich in Deutschland?“, in How’s Life? 2020: Measuring Well-being, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/79446193-de.

[4] OECD (2019), Skills Matter: Additional Results from the Survey of Adult Skills, OECD Skills Studies, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/1f029d8f-en.

[8] OECD (o. J.), „Germany Economic Snapshot: Economic Forecast (June 2022)“, OECD, Paris, https://www.oecd.org/economy/germany-economic-snapshot.

[7] OECD (o. J.), „Gross domestic product (GDP)“, Indikator, OECD, Paris, https://doi.org/10.1787/dc2f7aec-en.

[15] OECD (o. J.), „OECD Science, Technology and Innovation Scoreboard“, OECD, Paris, https://www.oecd.org/sti/scoreboard.htm.

[10] OECD (o. J.), „Real GDP forecast“, Indikator, OECD, Paris, https://doi.org/10.1787/1f84150b-en.

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